Der Schwarm - Schatzing Frank (читать книги TXT) 📗
»Sie wollen amerikanische Werte verteidigen, Jude?« Johanson schuttelte den Kopf. »Dann werden wir scheitern.«
»Was haben Sie gegen amerikanische Werte?«
»Nichts. Aber Sie haben doch gehort, was Crowe sagt: Intelligente Lebensformen auf anderen Planeten sind vielleicht weder menschenahnlich noch saugetierahnlich, vielleicht basieren sie nicht mal auf der DNA, also wird ihr Wertesystem ein vollig anderes sein als unseres. Was glauben Sie, welchem moralischen und sozialen Modell Sie da unten begegnen werden, in der Tiefsee? Bei einer Rasse, deren Kultur moglicherweise auf Zellteilung und kollektiver Aufopferung besteht. Wie wollen Sie zu einer Verstandigung gelangen, wenn Sie einzig die Wahrung von Werten im Auge haben, auf die sich nicht mal die Menschen verstandigen konnen?«
»Sie schatzen mich falsch ein«, sagte Li. »Mir ist schon klar, dass wir die Moral nicht gepachtet haben. Die Frage ist: Mussen wir um jeden Preis verstehen, wie die anderen denken? Oder ist es nicht besser, einfach alle Kraft in den Versuch einer Koexistenz zu investieren?«
»Innerhalb derer jeder den anderen in Frieden lasst?«
»Ja.«
»Spate Einsicht, Jude«, sagte Johanson. »Ich denke, die Ureinwohner Amerikas, Australiens, Afrikas und der Arktis hatten Ihren Standpunkt begru?t. Diverse Tierarten, die wir ausgerottet haben, ebenfalls. Fest steht, dass die Situation viel komplizierter ist. Wir werden kaum verstehen konnen, wie die anderen denken. Trotzdem mussen wir den Versuch wagen, weil wir einander schon zu sehr in die Quere gekommen sind. Unser gemeinsamer Lebensraum ist zu eng geworden fur ein Leben nebeneinander, es bleibt uns nur ein Miteinander. Das funktioniert einzig und alleine, wenn wir unsere vermeintlich gottgegebenen Anspruche weit zuruckschrauben.«
»Und wie soll das Ihrer Meinung nach aussehen? Indem wir uns die Lebensgewohnheiten von Einzellern zu Eigen machen?«
»Naturlich nicht. Es ware uns genetisch gar nicht moglich. Selbst was wir als Kultur bezeichnen, ist unseren Genen eingegeben. Die kulturelle Evolution beginnt in prahistorischen Zeiten, da wurden in unseren Kopfen die Weichen gestellt. Kultur ist biologisch, oder wollen wir annehmen, es seien neue Gene hinzugekommen, um Kriegsschiffe zu konstruieren? Wir bauen Flugzeuge, Helikoptertrager und Opernhauser, aber wir tun es, um auf sogenanntem zivilisierten Niveau unseren uralten Aktivitaten nachzugehen, seit die erste Steinaxt gegen ein Stuck Fleisch getauscht wurde: Krieg, Stammestreffen, Handel. Kultur ist Teil unserer Evolution. Sie dient dazu, uns in einem stabilen Zustand zu halten …«
»… bis ein stabilerer Zustand sich als uberlegen erweist. Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen, Sigur. In prahistorischen Zeiten hat das Erbgut die Kultur gepragt und uns entsprechend genetisch verandert. Also steuern die Gene unser Verhalten. Sie schaffen uns beiden die Grundlage fur diese Unterhaltung, sosehr wir den Gedanken auch hassen mogen. Unser ganzer intellektueller Fundus, auf den wir so stolz sind, ist das Resultat genetischer Steuerung, und Kultur nichts weiter als soziales Verhaltensrepertoire, gekoppelt an den Kampf ums Uberleben.«
Johanson schwieg.
»Habe ich was Falsches gesagt?«, fragte Li.
»Nein. Ich lausche ergriffen und betort. Sie haben vollkommen Recht. Die menschliche Evolution ist ein Wechselspiel aus genetischer Veranderung und kulturellem Wandel. Es waren genetische Veranderungen, die zum Wachstum unseres Gehirns gefuhrt haben. Es war pure Biologie, die uns das Sprechen ermoglicht hat, als die Natur unseren Kehlkopf vor 500000 Jahren umstrukturierte und die Sprachzentren in der Gro?hirnrinde ausbildete. Aber dieser genetische Wandel fuhrte zum kulturellen Aufbau. Sprache formulierte Erkennen, Vergangenheit, Zukunft und Vorstellungsvermogen. Kultur ist das Resultat biologischer Prozesse, und biologischer Wandel erfolgt als Reaktion auf kulturelle Weiterentwicklung. Sehr verzogert zwar, aber genau so ist es.«
Li lachelte.
»Wie schon, dass ich vor Ihnen bestehen konnte.«
»Ich hatte nichts anderes erwartet«, sagte Johanson charmant. »Aber Sie haben es selber eingeraumt, Jude: Unsere viel gepriesene kulturelle Vielfalt sto?t an genetische Grenzen. Und die werden dort gezogen, wo die Kultur intelligenter Nichtmenschen ihren Anfang nimmt. Wir haben eine Vielzahl von Kulturen ausgebildet, aber sie alle basieren auf der Notwendigkeit, unsere Art in Sicherheit zu bringen. Wir werden nicht die Werte einer Spezies ubernehmen konnen, deren Biologie der unseren entgegensteht und die naturlicherweise unser Feind sein muss im Kampf um Lebensraume und Ressourcen.«
»Sie glauben nicht an die Galaktische Foderation, in der sich wandelnde Bienenstocke mit unsereinem an die Theke stellen?«
»Krieg der Sterne?«
»Ja.«
»Ein wunderbarer Film. Nein. Ich glaube, das wurde erst funktionieren nach einer sehr, sehr langen Zeit der Uberwindung. Wenn unserem genetischen Programm der kulturelle Austausch mit dem Andersartigen eingebrannt ist.«
»Also habe ich Recht! Wir sollten nicht den Versuch unternehmen, die Yrr zu verstehen. Wir sollten einen Weg finden, einander in Ruhe zu lassen.«
»Sie haben Unrecht. Denn sie lassen uns nicht in Ruhe.«
»Dann haben wir verloren.«
»Warum?«
»Waren wir uns nicht daruber einig, dass Menschen und Nichtmenschen keinen Konsens erreichen konnen?«
»Man war sich auch daruber einig, dass Christen und Muslime keinen Konsens erreichen konnen. Horen Sie zu, Jude: Wir konnen und mussen die Yrr nicht verstehen.
Aber wir mussen dem, was wir nicht verstehen, Platz einraumen. Das ist etwas anderes, als den Werten der einen wie der anderen Seite uneingeschrankt das Wort zu reden. Die Losung liegt im Zuruckweichen, und augenblicklich ist unser Zuruckweichen gefragt. Dieser Weg kann funktionieren. Er fuhrt nicht uber emotionales Verstandnis — das gibt es nicht. Aber dafur uber eine veranderte Sichtweise. Uber ein Weltverstandnis, das umfassender wird, je weiter wir uns von der eigenen Art entfernen, Schritt fur Schritt, und Distanz zu uns selber suchen. Ohne diese Distanz werden wir nicht in der Lage sein, den Yrr einen anderen Blick auf uns zu verschaffen, als sie bereits haben.«
»Versuchen wir nicht gerade zuruckzuweichen? Alleine, indem wir den Kontakt zu ihnen suchen.«
»Und was soll dabei herauskommen, soweit es Sie betrifft?«
Li schwieg.
»Jude, verraten Sie mir ein Geheimnis. Wie kommt es, dass ich Sie so sehr schatze und Ihnen so wenig vertraue?«
Sie sahen einander an.
Von den Stehtischen drang der Larm der Unterhaltung heruber. Er schwoll an wie eine Woge, die das Deck uberspulte und mit Macht uber sie hereinbrach. Aus den Unterhaltungsfetzen wurden Rufe, dann Schreie. Im selben Moment hallte eine Stimme aus dem Durchsagesystem ubers Deck:
»Delphinwarnung! — Achtung! — Delphinwarnung!«
Li loste sich als Erste aus dem Duell der Blicke. Sie wandte den Kopf und sah auf das dammrige Meer hinaus.
»Mein Gott«, flusterte sie.
Das Meer war nicht mehr dammrig.
Es hatte zu leuchten begonnen.
Nach allen Seiten fluoreszierten die Wellen. Dunkelblaue Inseln stiegen aus der Tiefe zur Wasseroberflache, breiteten sich aus und flossen ineinander, dass es aussah, als ergie?e sich der Himmel ins Meer.
Die Independence schwebte in Licht. »Wenn das die Antwort auf deine letzte Botschaft ist«, sagte Greywolf zu Crowe, ohne den Blick von dem Schauspiel losen zu konnen, »musst du da unten jemanden schwer beeindruckt haben.« »Es ist wunderschon«, flusterte Delaware. »Sehen Sie!«, rief Rubin. In die leuchtende Flache kam Bewegung. Das Licht begann zu pulsieren. Riesige Wirbel entstanden darin, drehten sich erst langsam, dann immer schneller, bis sie wie Spiralgalaxien rotierten und Strome von Blau in sich hineinsaugten. Die Zentren verdichteten sich. Tausende funkelnder Sterne schienen darin aufzugluhen und wieder zu vergehen …