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Der Schwarm - Schatzing Frank (читать книги TXT) 📗

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»Ja.« Er lachelte zuruck. »Nicht zu ubersehen.«

Es war ein trauriges, hilfloses Lacheln. Eine Weile sah er sie einfach nur an. Dann rutschte er von seinem Hocker. »Ich glaube, ich sollte es mal mit Schlafen versuchen. Morgen fliege ich zur Beerdigung.« Er zogerte. »Also, gute Nacht und … danke.«

»Wofur?«

Danach sa? sie vor ihrem halb ausgetrunkenen Baileys und dachte an ihre Eltern und an den Tag, als die Leute von der Hotelleitung gekommen waren und die Managerin ihr gesagt hatte, sie musse jetzt ganz tapfer sein. Tapferes, kleines Madchen. Starke, kleine Karen.

Sie lie? den Likor im Glas hm— und herschwappen. Wie hart es gewesen war, hatte sie Anawak nicht erzahlt. Nichts davon, wie ihre Gro?mutter sie zu sich genommen hatte, ein verstortes, verangstigtes Kind, das seine Trauer in Wut umsetzte, sodass die alte Frau nicht mit ihr fertig wurde. Wie sich ihre Leistungen in der Schule rapide verschlechterten, zeitgleich mit ihrem Umgang. Nichts vom standigen Ausrei?en und Herumziehen, von den ersten Joints und den harteren Sachen, von der Zeit als Punk auf der Stra?e und wie es war, standig betrunken oder bekifft zu sein und mit jedem zu schlafen, der nicht Nein sagte. Und Nein gesagt hatte eigentlich keiner. Dann kleinere Diebstahle, Schulverweis, eine schlampig durchgefuhrte Abtreibung, hartere Drogen, Autoknacken, Jugendamt. Ein halbes Jahr im Heim fur schwer Erziehbare. Den Korper voller Piercings. Glatze und Narben. Seelisch und korperlich ein Schlachtfeld.

Tatsachlich hatte der Unfall ihrer Liebe zum Meer keinen Abbruch getan. Im Gegenteil. Mehr denn je ubte es eine dunkle Faszination auf sie aus, schien sie zu rufen, hinab zum Grund, wo ihre Eltern warteten. So heftig lockte die See, dass sie eines Nachts per Anhalter nach Brighton gefahren und weit hinausgeschwommen war, und als das olig schwarze, mondbeschienene Wasser die Lichter des Badeorts beinahe verschluckte, hatte sie sich langsam unter die Oberflache sinken lassen und versucht zu ertrinken.

Aber man ertrank nicht so einfach.

Sie hatte in der Lichtlosigkeit des Kanals gehangen, mit angehaltenem Atem, und ihre Herzschlage gezahlt, bis sie in den Ohren drohnten. Anstatt ihre Lebenskraft in sich aufzunehmen, hatte das Meer sie ihr gezeigt: so stark, dieses Herz! So trotzig dagegen anschlagend, dass sie sich der kalten Umarmung ergeben wollte, und plotzlich hatte der Atemreflex eingesetzt und sie gezwungen, Wasser in ihre Lungen aufzunehmen. Was nun geschah, davon hatte sie ihren Vater oft genug reden horen. Schaum wurde sich in der Lunge bilden, das filigrane Netzwerk aus Blaschen in sich zusammenfallen, akuter Sauerstoffmangel zum Tod fuhren. Zwei Minuten bis zum Krampfstadium des Zwerchfells, keine Atmung mehr moglich. Funf Minuten bis zum Herztod.

Sie war nach oben geschossen und aufgetaucht aus dem Alptraum, der mit ihrem zehnten Lebensjahr begonnen hatte und mit ihrem sechzehnten endete, unmittelbar neben einem Kutter. Man brachte sie mit einer schweren Unterkuhlung ins Krankenhaus, wo sie genugend Zeit fand, Mut und Entschlossenheit in einen Plan zu binden. Nach ihrer Entlassung betrachtete sie ihren Korper eine Stunde lang im Spiegel und beschloss, ihn nie wieder so sehen zu wollen. Sie entfernte die Piercings, horte auf, ihren Schadel zu rasieren, versuchte zehn Liegestutze und brach zusammen.

Nach einer Woche gelangen ihr zwanzig. Mit aller Macht versuchte sie zuruckzuerlangen, was ihr verlorengegangen war. Die Schule nahm sie wieder auf unter der Bedingung, dass sie sich einer Therapie unterzog, und sie willigte ein. Zeigte sich lernwillig und diszipliniert. War zuvorkommend und freundlich zu jedermann. Las, was immer sie in die Finger bekommen konnte, vorzugsweise uber das Okosystem Erde und die Ozeane. Kein Tag verging, an dem sie nicht trainierte. Seit der Kanal sie freigegeben hatte, lief, schwamm, boxte und kletterte sie, um die letzten Spuren der verlorenen Zeit zu tilgen, bis nichts mehr an das dunne, hohlaugige Madchen erinnerte, das sie gewesen war. Als sie mit neunzehn und einjahriger Verspatung einen glanzenden Collegeabschluss hinlegte und sich an der Universitat fur Biologie und Sport einschrieb, glich ihr Korper den Darstellungen hellenischer Wettkampfer. Karen Weaver war ein neuer Mensch geworden. Mit einer alten Sehnsucht. Um die Welt zu verstehen, wie sie funktionierte, belegte sie au?erdem Informatik. Die Darstellung komplexer Zusammenhange durch Computer begeisterte sie, und sie ruhte nicht eher, bis sie selber in der Lage war, Ablaufe in Ozean und Atmosphare virtuell darzustellen. Ihre erste Arbeit gab ein umfassendes Bild der Meeresstromungen wieder, das dem allgemeinen Wissen zwar nichts Neues hinzufugte, nur dass es von gro?er Brillanz und Stimmigkeit war: eine Hommage an zwei Menschen, die sie geliebt und zu fruh verloren hatte. Indem sie den Kopf unter Wasser steckte und forschte, gab sie etwas zuruck von dem, was sie im Uberfluss erhalten hatte: Liebe und Wissen. Sie grundete ihr PR-Buro Deepbluesea, schrieb fur Science und National Geographie, erhielt Kolumnen in popularwissenschaftlichen Titeln und zog das Interesse der Institute auf sich, die sie zu Expeditionen einluden, weil sie eine Stimme brauchten, um ihren Ideen Gestalt zu geben. Mit der MIR reiste sie zur Titanic, die Alvin brachte sie zu den hydrothermalen Schloten des Atlantischen Tiefseeruckens, die Polarstern zum Uberwintern in die Antarktis. Uberall war sie mit dabei, und aus allem machte sie das Beste, weil sie seit der Nacht im Kanal keine Furcht mehr kannte. Nichts und niemand machte ihr mehr Angst.

Bis auf das Alleinsein. Gelegentlich.

Sie sah sich im Spiegel der Bar stehen, nass, in Frottee gehullt, einigerma?en ratlos.

Schnell sturzte sie den Baileys hinunter und ging zu Bett.

14. Mai

Anawak

Das Motorengerausch begann ihn langsam, aber sicher einzuschlafern.

Nachdem er sich endlich zu der Reise durchgerungen hatte, war Anawak von Schwierigkeiten ausgegangen. Er hatte gedacht, Li wurde ihn vielleicht nicht gehen lassen, aber sie hatte ihn regelrecht gedrangt, das nachste Flugzeug zu nehmen.

»Wenn ein Elternteil stirbt oder ein Kind, muss man zu seiner Familie. Sie wurden es sich nie verzeihen, wenn Sie hier blieben. Die Familie ist das Wichtigste im Leben. Nur in der Familie herrscht Verlass. Seien Sie erreichbar. Das ist alles, worum ich Sie bitte.«

Jetzt, als Anawak im Flugzeug sa?, fragte er sich, ob Li uberhaupt Familie besa?.

Und er? Besa? er Familie?

Absurd. Jemand, der moglicherweise keine Beziehung zu seiner Familie hatte, sang jemandem, der ebenso wenig eine hatte, das Hohelied der engeren Verwandtschaft.

Sein Sitznachbar, ein Klimaforscher aus Massachusetts, begann leise zu schnarchen. Anawak stellte die Lehne seines Sitzes ein Stuck nach hinten und sah aus dem Fenster. Er war seit Stunden mit sich und seinen Gedanken allein, und noch war er nicht sicher, ob es ihm gut tat. Eine Boeing der Canadian Airlines International hatte ihn von Vancouver zuerst zum Toronto Pearsons Airport geflogen, wo gelandete Maschinen in langen Reihen auf ihre Abfertigung warteten. Uber Toronto war ein ungewohnlich heftiges Gewitter niedergegangen und hatte den Flugbetrieb vorubergehend lahm gelegt. Anawak war es vorgekommen wie ein boses Omen. Voller Unruhe sa? er in der Abfertigungshalle des Toronto Airport, wahrend drau?en eine Maschine nach der anderen an den ziehharmonikaformigen Fingern festmachte, bis es mit zweistundiger Verspatung endlich weiterging nach Montreal.

Von da an war alles glatt verlaufen. Er hatte in der Nahe des Dorval Airport ein Zimmer in einem Holiday Inn gebucht und fruh wieder im Warteraum gesessen. Erste Anzeichen deuteten darauf hin, dass er in eine andere Welt ubertrat. Eine Gruppe von Mannern stand mit dampfenden Kaffeebechern am gro?en Panoramafenster. Sie trugen die Embleme von Olfirmen auf ihren Overalls und schienen nur etwas Handgepack mit sich zu fuhren. Zwei von ihnen hatten Gesichter wie Anawak. Breitflachig und dunkel, mit mongolisch geschnittenen Augen. Drau?en verschwanden riesige, voll gepackte Paletten, festgezurrt mit Packnetzen, im Bauch der Canadian North Airlines Boeing 737, eine nach der anderen. Noch wahrend sie von den Hebebuhnen geschoben wurden, erging der Aufruf an die Passagiere. Sie uberquerten das Flugfeld zu Fu? und betraten die Maschine uber die Leiter unter dem Heck. Die Sitzreihen waren auf das vordere Drittel beschrankt, alles andere hatte dem Stauraum weichen mussen.

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