Der Schwarm - Schatzing Frank (читать книги TXT) 📗
»Tanker und Frachter sind Gebilde, die zur Halfte aus Hightech bestehen. Die andere Halfte ist archaisch. Schiffsdiesel und Rudermaschinen mogen komplizierte, hoch entwickelte Konstrukte sein, aber unterm Strich dienen sie dazu, eine Schraube im Kreis zu drehen und ein Stuck Stahl hin— und herzubewegen. Man navigiert mit GPS, aber Kuhlwasser wird durch ein Loch ins Innere gepumpt. Warum auch anders? Man schwimmt ja darin. So einfach ist das. Hin und wieder setzt sich einer der Kasten zu, wenn zufallig Seegras hineingerat oder sonst was, aber dann wird er gereinigt. Ist einer verstopft, benutzt man den anderen. Nie hat die Natur offensiv Angriffe auf Seekasten gestartet, wozu also hatte man das System verbessern sollen?« Er lie? einige Sekunden verstreichen. »Dr. Roche, wenn winzige Insekten morgen beschlie?en sollten, gezielt Ihre Nasenlocher zuzusetzen, besteht fur Ihren wunderbaren, hochkomplexen Korper die Gefahr des Ablebens. Haben Sie je daruber nachgedacht, dass es geschehen konnte? Genau hier liegt das Problem in allem, was uns heimsucht. — Haben wir je daruber nachgedacht, dass es geschehen konnte?«
Johanson horte nicht mehr richtig hin. Das nachste Kapitel kannte er in allen Einzelheiten. Er und Bohrmann hatten es fur Peaks Vortrag strukturiert. Es handelte von Wurmern und Methanhydraten. Wahrend Peak sprach, vertraute er seinem Laptop in loser Folge Gedankengange an:
Die Beeinflussung der neuronalen Systeme durch die …
Durch die was?
Er musste einen Begriff dafur finden. Es war lastig, standig drum herum zu formulieren. Gedankenverloren starrte er den Bildschirm an. Hatte der Stab Zugriff auf die Programme? Der Gedanke, Li und ihre Leute konnten seine Gedanken ausspionieren, drangte sich auf und missfiel ihm. Er hatte seine Theorie, und er wollte den Stab zu einem Zeitpunkt damit konfrontieren, den er bestimmte.
Der reine Zufall wollte es, dass Ringfinger und Mittelfinger seiner linken Hand plotzlich ein Wort produzierten. Eigentlich war es noch weniger als ein Wort. Drei Buchstaben erschienen auf dem Bildschirm des Laptops.
Yrr Johanson war versucht, sie wieder zu loschen. Dann hielt er inne. Warum eigentlich nicht?
Ein Wort war so gut wie jedes andere. Dieses war sogar noch besser als ein richtiges Wort, weil es sich jedem Versuch einer Interpretation entzog. Im Grunde wusste er ja nicht, woruber er schrieb. Es gab keinerlei Begriff dafur, also empfahl sich der Weg in die Abstraktion.
Yrr
Yrr klang gut. Er wurde vorerst dabei bleiben.
Weaver zerkaute ihren dritten Bleistift, wahrend sie zuhorte.
»Vielleicht war die Sintflut ahnlich verheerend«, schloss Peak seinen minutiosen Exkurs. »Flutschilderungen sind Teil etlicher Mythen und religioser Uberlieferungen. Die vielleicht fruheste Beschreibung eines Tsunami, der wir glauben konnen, erzahlt von einer Naturkatastrophe in der Agais 479 vor Christus. Nachgewiesen sind die 60000 Toten, die 1755 in Lissabon starben, als Portugal von zehn Meter hohen Wellen getroffen wurde. Definitiv wissen wir auch von der Explosion des Krakatau 1883. Der gro?te Teil des Gipfels wurde abgesprengt, die unterseeische Caldera sturzte in die Magmakammer. Zwei Stunden spater trafen 40 Meter hohe Wellen die Kustenregionen um Sumatra und Java, uber 300 Orte wurden verwustet, fast 36000 Menschen starben. 1933 suchte ein weit kleinerer Tsunami die japanische Stadt Sanriku heim und uberrollte den Nordosten von Honshu. Bilanz: 3000 Tote, 9000 Gebaude zerstort, 8000 Schiffe gesunken. Keines dieser Ereignisse kommt auch nur annahernd dem nordeuropaischen Tsunami gleich. Die Anrainerstaaten dort sind ausnahmslos hoch entwickelte Industrienationen. Insgesamt 240 Millionen Menschen leben dort, die meisten an der Kuste.«
Er sah in die Runde. Es war totenstill im Raum.
»Geologisch hat sich die gesamte Region schlagartig verandert. Fur die Menschheit als Ganzes sind die Folgen noch nicht abzusehen, fur die Wirtschaft sind sie vernichtend! Einige der bedeutendsten Hafenstadte der Welt wurden teilweise oder vollstandig zerstort. Rotterdam war bis vor wenigen Tagen der gro?te maritime Handelsplatz aller Zeiten, die Nordsee eine der wichtigsten Lagerstatten fur fossile Energien. Rund 450000 Barrel Ol wurden hier taglich hoch gepumpt. Die Halfte der europaischen Olressourcen lagert vor der norwegischen Kuste, ein weiterer Teil vor England, au?erdem ein erheblicher Teil der globalen Gasvorrate. Diese gewaltige Industrie wurde innerhalb weniger Stunden vernichtet. Die Zahl der Todesopfer liegt vorsichtig geschatzt bei zwei bis drei Millionen, die der Verletzten und obdachlos Gewordenen weit daruber.«
Peak verlas die Zahlen wie einen Wetterbericht, sachlich und scheinbar ohne Emotion.
»Unklar ist, was die Rutschung ausloste. Die Wurmer gehoren zweifellos zu den bemerkenswertesten Mutationen, mit denen wir es im Augenblick zu tun bekommen. Kein naturlicher Vorgang erklart das milliardenfache Auftreten dieser Wurm-Bakterien-Kohorten. Dennoch vertreten unsere Freunde aus Kiel und Dr. Johanson die Auffassung, dass in dem Puzzle noch ein Steinchen fehlt. So instabil die Hydratfelder durch den Befall wurden, war mit einer solchen Katastrophe einfach nicht zu rechnen. Ein zusatzlicher Faktor muss ins Spiel gekommen sein, der mit der Welle nur den vordergrundigen Teil des Problems schuf.«
Weaver richtete sich auf. Sie spurte, wie sich ihre Nackenhaare straubten. Auch wenn das Satellitenbild, das in dieser Sekunde auf dem Schirm erschien, aus gro?er Hohe geschossen worden war, unscharf und kunstlich aufgehellt, erkannte sie das Schiff sofort.
»Diese Aufnahmen demonstrieren, was ich meine«, sagte Peak. »Wir haben das Schiff per Satellit uberwacht …« Wie bitte? Weaver glaubte, sich verhort zu haben. Sie hatten Bauer uberwacht? »Ein Forschungsschiff namens Juno«, fuhr Peak fort.
»Die Bilder sind nachts geschossen worden, von einem militarischen Aufklarungssatelliten namens EORSAT. Glucklicherweise hatten wir einwandfreie Sicht und sehr ruhige See, was ungewohnlich ist fur die Gegend. Die Juno lag zu diesem Zeitpunkt vor Spitzbergen.«
Verwaschen hoben sich die Schiffslichter von der schwarzen Oberflache ab. Plotzlich sprenkelte sich das Meer mit hellen Flecken, die sich ausbreiteten, bis die See zu kochen schien.
Die Juno kippte von rechts nach links, drehte sich.
Dann sank sie wie ein Stein.
Weaver erstarrte. Niemand hatte sie darauf vorbereitet. Endlich wusste sie, wo Bauer abgeblieben war. Die Juno lag am Grund der Gronlandischen See. Sie dachte an seine verstorenden Aufzeichnungen, seine Befurchtungen und Angste. Schmerzlich wurde ihr bewusst, dass sie nun mehr daruber wusste als jeder andere. Bauer hatte ihr sein geistiges Eigentum vermacht.
»Es war das erste Mal seit Beginn der Anomalien«, sagte Peak, »dass wir diesen Effekt beobachten konnten. Bekannt waren uns Methan-Blowouts in dieser Gegend schon des Langeren, allerdings …«
Weaver hob die Hand.
»Haben Sie vermutet, dass so etwas geschehen wurde?«
Peak sah sie aus seinen wei?en Augen an. Sein Gesicht wirkte wie geschnitzt, vollkommen reglos.
»Nein.«
»Und was haben Sie unternommen, als die Juno sank?«
»Nichts.«
»Sie konnten nichts tun, obwohl Sie die Gegend und das Schiff von einem Satelliten uberwachen lie?en?«
Peak schuttelte langsam den Kopf. »Wir haben eine ganze Reihe von Schiffen beobachtet, um Erfahrungen zu sammeln. Man kann nicht uberall zugleich sein. Niemand konnte davon ausgehen, dass ausgerechnet dieses Schiff …«
»Tausche ich mich«, unterbrach ihn Weaver heftig, »oder sind Auswirkungen solcher Blowouts hinlanglich bekannt? Zum Beispiel aus dem angeblich so mysteriosen Bermuda-Dreieck?«
»Miss Weaver, wir …«
»Anders gefragt, wenn Sie wussten, dass in der Vergangenheit Schiffe auf diese Weise verschwunden sind, und wenn Sie ferner wussten, dass die Freisetzung von Methan im Nordmeer zunimmt — ahnten Sie dann nicht auch, was dem norwegischen Kontinentalhang bluhen wurde?«