Der Schwarm - Schatzing Frank (читать книги TXT) 📗
Peak prasentierte eine Reihe elektronenmikroskopischer Aufnahmen. Sie zeigten unterschiedliche Lebensformen. Manche sahen aus wie Amoben mit sternformigen Auswuchsen, andere glichen schuppigen oder haarigen Kugeln, wieder andere Hamburgern, zwischen deren Halften sich spiralige Tentakel wanden.
»Das alles ist Pfiesteria«, sagte Peak. »Die Alge verandert innerhalb von Minuten ihr Aussehen, sie kann auf das Zehnfache anwachsen, sich in Zysten verpuppen, daraus hervorbrechen und von einem harmlosen Einzeller zu einer hochtoxischen Zoospore mutieren. Bis zu vierundzwanzig verschiedene Formen nimmt Pfiesteria an, und jedes Mal verandert sie dabei ihre Eigenschaften. Mittlerweile ist es gelungen, die Toxide zu isolieren. Dr. Roche und sein Team arbeiten auf Hochtouren an der Entschlusselung, allerdings haben sie es schwerer als die Forscher hierzulande. Das Wesen, das in die Kanalisation gelangte, scheint namlich gar nicht Pfiesteria piscicida zu sein, sondern eine ungleich gefahrlichere Abart. Pfiesteria piscicida hei?t in wortlicher Ubersetzung Fisch fressende Pfiesterie. Dr. Roche hat das von ihm entdeckte Exemplar Pfiesteria homicida getauft — Menschen fressende Pfiesterie.«
Peak erlauterte die Schwierigkeiten, der Alge Herr zu werden. Der neue Organismus schien es darauf anzulegen, sich in Zyklen explosionsartig zu vermehren. Einmal in den Wasserkreislauf geraten, wurde man ihn nicht wieder los. Er sickerte ins Erdreich und sonderte sein Gift ab, das kaum herauszufiltern war. Genau hier lag das Problem. Viele der Opfer wurden von Pfiesteria regelrecht angefressen. Sie bekamen schwarende Wunden am ganzen Korper, die nicht verheilten, sondern sich entzundeten und vereiterten. Aber schlimmer war das Gift. So verzweifelt die Behorden bemuht waren, Kanale und Wasserleitungen zu reinigen, konnten sie doch nicht verhindern, dass sich der Organismus woanders wieder ausbreitete. Man versuchte ihm mit Hitze und Sauren beizukommen, mit chemischen Keulen, aber naturlich konnte der Sinn solcher Aktionen nicht darin bestehen, ein Ubel durch das andere zu ersetzen.
Von alldem zeigte sich Pfiesteria homicida weitestgehend unbeeindruckt.
Pfiesteria piscicida hatte das Nervensystem geschadigt. Die neue Art attackierte es mit einer Aggressivitat, dass man binnen Stunden gelahmt war, ins Koma fiel und starb. Nur wenige Menschen schienen resistent zu sein. Nachdem Roche den toxischen Code bislang nicht hatte entschlusseln konnen, hoffte man auf die Dekodierung dieser Resistenz, doch dem Team lief die Zeit davon. Die Ubertragung der Krankheit schien sich jeder Eindammung entzogen zu haben.
»Die Alge ist in einem Trojanischen Pferd gekommen«, sagte Peak. »Im Innern von Schalentieren. In Trojanischen Hummern, wenn Sie so wollen, oder besser gesagt in etwas, das nach Hummer aussah. Ganz offenbar lebten die Tiere, als sie gefangen wurden, nur dass ihr Fleisch einer gallertigen Substanz gewichen war. Eingekapselt darin lagerten Kolonien von Pfiesteria. Die Europaische Union hat den Fang und die Ausfuhr von Schalentieren mittlerweile verboten. Im Augenblick beschranken sich Erkrankungen und Todesfalle auf Frankreich, Spanien, Belgien, Holland und Deutschland. Die letzte mir vorliegende Zahl spricht von 14000 Toten. Auf dem amerikanischen Kontinent scheinen Hummer noch Hummer zu sein, aber auch wir erwagen, den Verkauf von Schalentieren zu untersagen.«
»Schrecklich«, flusterte Rubin. »Woher kommen diese Algen?«
Roche drehte sich zu ihm um.
»Menschen haben sie gemacht«, sagte er. »Die amerikanische Schweinemast an der Ostkuste spult Unmengen von Gulle direkt in die Gewasser, und Pfiesterien gedeihen prachtig in uberdungtem Wasser. Sie nahren sich von Phosphaten und Nitraten, die mit Tierfakalien auf Feldern ausgebracht werden und in die Flusse gelangen. Oder von Industrieabwassern. Was wundern wir uns, dass sich die Biester in der Kanalisation von Gro?stadten wohl fuhlen, wo alles gesattigt ist mit organischen Stoffen? Wir erschaffen die Pfiesterien dieser Welt. Wir erfinden sie nicht, aber wir gestatten ihnen, sich in Monster zu verwandeln.« Roche machte eine Pause und sah wieder Peak an. »Wenn die Ostsee umkippt und alle Fische darin sterben, wie es in den letzten Jahren der Fall war, hat das seinen Grund in der danischen Schweinemast. Die Gulle bringt Algen dazu, sich explosionsartig zu vermehren. Die Algen binden den Sauerstoff, und die Fische sterben. Toxische Algen tun noch einiges mehr, und keine Gegend scheint vor ihnen sicher. Jetzt haben wir die schlimmste von allen mitten unter uns.«
»Aber warum hat man nicht schon fruher etwas dagegen unternommen?«, fragte Rubin.
»Fruher?« Roche lachte. »Man hat fruher etwas dagegen unternommen, mein Freund. Man hat es versucht. Wo leben Sie? Statt ernsthafte Studien zu treiben, wurden die Forscher ausgelacht und erhielten Morddrohungen. Erst vor wenigen Jahren ist aufgeflogen, dass die Umweltbehorde von North Carolina die Vorfalle um Pfiesteria bewusst vertuscht hatte, mit Rucksicht auf einflussreiche politische Reprasentanten, die zufalligerweise selber Schweinezuchter sind. Naturlich sollten wir uns fragen, welcher Irre uns mit Pfiesterien verseuchte Hummer schickt. — Aber es andert nichts daran, dass wir die Geburtshelfer der Katastrophe sind. Auf irgendeine Weise sind wir das immer.«
»Diese Muscheln besitzen alle Eigenschaften typischer Zebramuscheln. Aber sie konnen etwas, das gewohnliche Zebramuscheln nicht konnen. Namlich navigieren.«
Peak war bei Schiffsunglucken angelangt. Nachdem sich die Konferenz durch Pfiesteria- Bilanzen gequalt hatte, prasentierte er nun Statistiken, die nicht weniger niederschmetternd waren. Uber eine Weltkarte zog sich ein Geflecht farbiger Linien.
»Die Hauptverkehrswege der Handelsschifffahrt«, erlauterte Peak die Grafik. »Ausschlaggebend fur den Verlauf ist die Verteilung transportierter Guter. In der Regel werden Rohstoffe immer in den Norden verschifft. Australien exportiert Bauxit, Kuwait Ol und Sudamerika Eisenerz. Alles wandert uber Entfernungen von bis zu 11000 Seemeilen nach Europa und Japan, damit in Stuttgart, Detroit, Paris und Tokio Autos, Elektrogerate und Maschinen entstehen. Und die wandern in Containerfrachtern wieder zuruck nach Australien, Kuwait oder Sudamerika. Fast ein Viertel des gesamten Welthandels wird im pazifisch-asiatischen Raum abgewickelt, das entspricht einem Warenwert von 500 Milliarden US-Dollar. Unwesentlich weniger ist es im Atlantik. — Die Hauptballungszentren des Seeverkehrs sehen Sie dunkel markiert. Die amerikanische Ostkuste mit Schwerpunkt New York, der europaische Norden mit Armelkanal, Nordsee und Ostsee bis hinauf zu den baltischen Republiken, das gesamte Mittelmeer, insbesondere die Riviera. Den europaischen Meeren kommt eine zentrale Bedeutung fur den Welthandel zu, das Mittelmeer dient au?erdem als Seeweg von der nordamerikanischen Ostkuste durch den Suezkanal nach Sudostasien. Nicht zu vergessen die japanischen Inseln und der Persische Golf! Im Kommen ist das Chinesische Meer, es zahlt neben der Nordsee zu den dichtbefahrensten Gewassern der Erde. Um die Ablaufe des Welthandels auf den Meeren zu verstehen, muss man dieses Netzwerk verstanden haben. Man muss wissen, was es fur die eine Seite des Globus bedeutet, wenn auf der anderen ein Containerfrachter sinkt, welche Produktionswege unterbrochen werden, wie viele Arbeitsplatze gefahrdet sind, wen es die Existenz oder das Leben kostet und wer vom Ungluck profitieren konnte. Der Flugverkehr hat die Passagierschifffahrt abgelost, aber der Welthandel hangt am Meer. Nichts kann den Wasserweg ersetzen.«
Peak machte eine Pause.
»Vor diesem Hintergrund ein paar Zahlen. 2000 Schiffe taglich drangen sich durch die Malakkastra?e und ihre angrenzenden Meerengen, fast 20000 Schiffe aller Gro?en durchqueren im Jahr den Suezkanal. Das ergibt jeweils 15 Prozent des Welthandels. 300 Schiffe kreuzen am Tag im englischen Kanal, um ins meistbefahrene Meer der Welt zu gelangen, in die Nordsee. Rund 44000 Schiffe pro Jahr verbinden Hongkong mit der Welt. Zigtausend Frachter, Tanker und Fahren bewegen sich jahrlich uber den Globus, von Fischereiflotten, Kuttern, Segelyachten und Sportbooten ganz zu schweigen. Millionen Schiffsbewegungen verzeichnen die Ozeane, Randmeere, Kanale und Meerengen. Angesichts dessen mag es ubertrieben erscheinen, vom gelegentlichen Untergang eines Supertankers oder Containerfrachters auf eine ernsthafte Krise der Seeschifffahrt zu schlie?en. So leicht lasst sich niemand davon abschrecken, noch den letzten Rosthaufen mit Ol zu fullen und auf Fahrt zu schicken. — Nebenbei, die meisten der rund 7000 Oltanker weltweit befinden sich in einem miserablen Zustand. Uber die Halfte davon tut seit mehr als 20 Jahren Dienst, viele der Supertanker kann man getrost als schrottreif bezeichnen. Da wird einiges in Kauf genommen. Die Katastrophe ist potenziell, aber gelaufig. Man beginnt zu rechnen: Konnte es gut gehen? Man kennt die Faktoren, das Ganze wird zum Glucksspiel. Wenn ein 300 Meter langer Tanker in ein Wellental gerat, wird er in der Mitte um bis zu einem Meter durchgebogen, das zermurbt jede Konstruktion. Der Tanker fahrt trotzdem, weil man sich den Ausgang der Fahrt schonrechnet.« Peak lachelte dunn. »Wenn aber vollig unerklarliche Phanomene zu Unglucksfallen fuhren, ist die Rechnerei dahin. Das Risiko wird unkalkulierbar. Eine ganz eigenartige Psychologie kommt ins Spiel. Wir nennen sie die Hai-Psychose. Nie wei? man, wo der Hai gerade ist, wen er als Nachstes fressen konnte, also reicht ein Exemplar, um tausende Urlauber daran zu hindern, ins Wasser zu gehen. Statistisch ware es dem einen Menschenfresser unmoglich, dem Tourismus erkennbaren Schaden zuzufugen. Praktisch bringt er ihn zum Erliegen.