Der Schwarm - Schatzing Frank (читать книги TXT) 📗
Die Frau schluckte. »Und … welche Gebiete waren davon betroffen?«
»Kommt drauf an, wo genau der Abbruch stattfindet und auf welcher Lange. Gro?e Teile der norwegischen Kuste, schatze ich. Tsunamiwellen breiten sich uber Tausende von Kilometern aus. Wir informieren samtliche Anrainer, Island, Gro?britannien, Deutschland, alle.«
Die Frau starrte aus dem Fenster des Regierungsgebaudes. Sie dachte an die Plattformen da drau?en. Hunderte bis hinauf nach Trondheim.
»Was ware die Folgen fur die Kustenstadte?«, fragte sie tonlos.
»Sie sollten Evakuierungen ins Auge fassen.«
»Und fur die Offshore-Industrie?«
»Glauben Sie mir, das ist alles schwer zu sagen. Im besten Fall gibt es eine Serie kleiner Rutschungen. Dann wird es einfach nur ein bisschen wackeln. Schlimmstenfalls bedeutet es …«
Im selben Moment ging die Ture auf, und ein Mann mit bleichem Gesicht kam hereingesturzt. Er legte ein Blatt Papier vor die Frau und machte ihr Zeichen, das Gesprach zu beenden. Sie nahm den Ausdruck und uberflog den kurzen Text. Es war der Abschrift eines Funkspruchs. Ein Schiff hatte ihn abgegeben.
Thorvaldson, las sie.
Dann las sie weiter und fuhlte, wie der Boden unter ihren Fu?en zu schwinden drohte.
»Es gibt warnende Anzeichen«, sagte Bohrmann gerade. »Falls es passieren sollte, mussen die Menschen an der Kuste wissen, worauf sie zu achten haben. Tsunamis kundigen sich an. Eine Weile vor ihrem Eintreffen kann man ein schnelles Ansteigen und Fallen des Meeresspiegels beobachten. Mehrmals hintereinander. Dem geubten Auge fallt es auf. Nach zehn oder zwanzig Minuten weicht das Wasser dann plotzlich weit vom Ufer zuruck. Riffe und Felsen werden sichtbar. Sie werden Meeresboden sehen, der normalerweise nie zu sehen ist. Spatestens jetzt mussen Sie hoheres Gelande aufsuchen.«
Die Frau sagte nichts mehr, und sie horte kaum noch zu. Sie hatte sich vorzustellen versucht, was geschehen wurde, wenn der Mann am Telefon die Wahrheit sagte. Jetzt versuchte sie sich vorzustellen, was soeben geschah.
Lund verging vor Langeweile.
Es war damlich, in dem leeren Restaurant herumzusitzen und Kaffee zu trinken. Jede Form von Untatigkeit erschien ihr wie Folter. Die Kuchenhilfe war freundlich gewesen und hatte ihretwegen extra die Maschine angeworfen, mit der man Espresso und Cappuccino zubereitete. Der Kaffee schmeckte kostlich, und trotz des sturmischen Wetters und der schlechten Sicht war der Blick aus den gro?en Panoramafenstern aufs Meer beeindruckend. Dennoch fand Lund die Warterei ungemein ode.
Sie loffelte aufgeschaumte Milch aus ihrer Tasse, als jemand eintrat. Ein Windsto? fuhr ins Innere.
»Hallo, Tina.«
Sie sah auf. Der Mann war ein Freund von Sverdrup. Sie kannte ihn nur als Ake, seinen Nachnamen wusste sie nicht. Er hatte eine gut gehende Bootsvermietung in Kristiansund und verdiente in den Sommermonaten eine Menge Geld.
Sie wechselten einige Worte uber das Wetter, dann fragte Ake: »Was machst du hier? Besuchst du Kare?«
»Das hatte ich vor«, sagte Lund mit schiefem Grinsen.
Ake sah sie aus erstaunten Augen an.
»Was sitzt du dann alleine hier herum? Warum ist der Schwachkopf nicht bei dir, wo er hingehort?«
»Meine Schuld. Ich war zu fruh.«
»Ruf ihn an.«
»Hab ich. Mailbox.«
»Ach richtig!« Ake schlug sich gegen die Stirn. »Er hat keinen Empfang dort, wo er jetzt ist.«
Lund horchte auf. »Du wei?t, wo er ist?«
»Ja, ich war eben noch mit ihm zusammen bei Hauffen.«
»Hauffen? Die Brennerei?«
»Ja. Er kauft Schnapse ein. Wir haben das eine oder andere probiert, aber du kennst ja Kare. Er trinkt weniger Alkohol als ein Monch in der Fastenzeit, ich musste die Verkostung alleine ubernehmen.«
»Ist er noch da?«
»Als ich ging, standen sie unten im Keller beisammen und quatschten. Warum fahrst du nicht ruber? Wei?t du, wo Hauffen ist?«
Lund wusste es. Die kleine Brennerei, die einen ausgezeichneten, nicht zum Export bestimmten Aquavit destillierte, lag zehn Gehminuten sudlich auf einem flachen Plateau. Mit dem Auto wurde sie in zwei Minuten dort sein, wenn sie die landeinwarts gelegene Stra?e nahm. Aber irgendwie gefiel ihr der Gedanke an einen kurzen Spaziergang besser. Sie hatte genug im Auto gesessen.
»Ich gehe ruber«, sagte sie.
»Bei dem Sauwetter?« Ake verzog das Gesicht. »Na, du musst es wissen. Schwimmhaute werden dir wachsen.«
»Besser als Wurzeln.« Sie stand auf, dankbar fur die Information. »Bis dann. Ich bringe ihn mit zuruck.«
Drau?en stellte sie den Kragen ihrer Jacke hoch, ging hinunter zum Strand und stapfte los. Von hier aus war die Brennerei an klaren Tagen gut zu erkennen. Jetzt erschien sie als grauer Schemen im schrag einfallenden Regen.
Wurde er sich freuen, sie zu sehen?
Unglaublich! Sie dachte wie ein verliebter Teenager. Tina Lund, nicht zurechnungsfahig. Klar wurde er sich freuen. Was denn sonst?
Wahrend sie sich vom Fiskehuset entfernte, wanderte ihr Blick aufs Meer hinaus. Ihr fiel auf, dass sie sich geirrt haben musste vorhin. Sie hatte gedacht, der felsige Strand sei breiter als sonst, aber er war wie immer. Nein, eigentlich wirkte er sogar schmaler.
Einen Moment lang verharrte sie.
Wie konnte man sich derart tauschen?
Vielleicht war der Sturm schuld. Die Wellen schlugen mal mehr, mal weniger herein. Wahrscheinlich wurde es gerade wieder heftiger. Sie zuckte die Achseln und ging weiter.
Als sie vollig durchnasst die Brennerei betrat, fand sie niemanden in dem kleinen Empfangsraum vor. An der Ruckwand stand eine Holztur offen. Lichtschein drang aus dem Keller nach oben. Sie zogerte nicht, sondern stieg hinab, wo sie zwei Manner antraf, die an Fasser gelehnt miteinander redeten, jeder ein Glas in der Hand. Es waren die beiden Bruder, denen die Brennerei gehorte, freundliche, alte Kerle mit wettergegerbten Gesichtern. Kare war nirgends zu sehen.
»Tut mir Leid«, sagte einer der beiden. »Er ist vor zwei Minuten abgezogen. Du hast ihn gerade verpasst.«
»War er zu Fu? hier?«, fragte sie. Womoglich konnte sie ihn einholen.
»Nein.« Der andere schuttelte den Kopf. »Mit dem Lieferwagen. Er hat ein bisschen was gekauft. Zu viel, um’s zu tragen.«
»Hat er gesagt, ob er zuruck ins Restaurant fahrt?«
»Ja, da wollte er hin.«
»Okay. Danke.«
»He, warte mal.« Der Alte loste sich vom Fass und kam zu ihr heruber. »Wenn du schon umsonst gekommen bist, trink wenigstens einen mit uns. Das ist doch ein Unding, du kommst in eine Brennerei und gehst nuchtern wieder raus!«
»Danke, das ist sehr nett, aber …«
»Er hat Recht«, stimmte sein Bruder eifrig zu. »Du musst was trinken.«
»Ich …«
»Drau?en geht die Welt unter, Kind. Wie willst du denn zuruckfinden ohne was Warmes im Bauch?«
Beide sahen sie mit Dackelaugen an. Lund wusste, dass sie den Alten eine Freude machte, wenn sie auf ein Glas blieb.
Und warum eigentlich nicht?
»Eines«, sagte sie.
Die Bruder grinsten und nickten einander zu, als hatten sie soeben Konstantinopel eingenommen.
Der Helikopter setzte zur Landung an.
Johanson sah hinaus. Sie hatten die Steilkuste uberflogen, waren ihrem Verlauf gefolgt und hielten nun auf den kleinen Landeplatz zu, an dem Karen Weaver ihn abholen wollte. Die Klippen fielen nach Osten sanft ab und endeten in einer geschwungenen Bucht. Ab hier war das Land flach. Endlose Sand— und Kiesstrande reihten sich aneinander, hinter denen die typische karge Mooslandschaft der Shetlands begann. Niedrige, lang gestreckte Hugel, zwischen denen sich die Stra?en ausnahmen wie hineingekratzt.