Der Schwarm - Schatzing Frank (читать книги TXT) 📗
»Egal. Hohe gewinnen.«
Knatternd setzten sich die Rotoren in Bewegung. Der Bell loste sich schwankend vom Boden und stieg ein, zwei Meter. Dann siegte die Neugierde des Piloten uber seine Angst. Er schwenkte den Helikopter um hundertachtzig Grad, sodass sie hinaus aufs Meer sehen konnten. Seine Gesichtszuge entgleisten.
»Ach du heilige Schei?e«, stie? er hervor.
»Da!« Weaver zeigte aus dem Fenster zu den Baracken. »Da drau?en!«
Johanson wandte den Kopf. Aus dem Hauptgebaude kam jemand auf sie zugelaufen. Ein Mann in Jeans und T-Shirt. Sein Mund stand weit offen. Er rannte aus Leibeskraften auf sie zu und ruderte mit den Armen.
Johanson sah Weaver verblufft an.
»Ich dachte …«
»Ich auch.« Sie starrte entsetzt auf die naher kommende Gestalt. »Wir mussen runter. Oh Gott, ich schwore, ich wusste nicht, dass Steven hier geblieben ist, ich dachte wirklich, sie seien alle …«
Johanson schuttelte energisch den Kopf. »Er schafft es nicht.«
»Wir konnen ihn nicht zurucklassen.«
»Schauen Sie nach drau?en, verflucht nochmal. Er schafft es nicht. Wir schaffen es nicht.«
Weaver stie? ihn zur Seite und drangte sich an ihm vorbei zur Tur. Im nachsten Moment verlor sie das Gleichgewicht, als der Pilot den Helikopter seitlich uber den Sandstreifen auf den rennenden Mann zubewegte. Die Maschine begann sich zu drehen und erbebte, als sie nacheinander von einer Reihe schwerer Boen getroffen wurde. Der Pilot fluchte lautstark. Kurz verloren sie den Wissenschaftler aus den Augen, dann waren sie ihm plotzlich sehr nahe.
»Er schafft es«, schrie Weaver. »Wir mussen runtergehen!«
»Nein«, flusterte Johanson.
Sie horte ihn nicht. Sie konnte ihn nicht horen. Selbst der Rotorenlarm ging nun unter im Donner des heranrollenden Meeres. Johanson wusste, dass sie den Wissenschaftler nicht mehr retten konnten, aber sie hatten wertvolle Zeit verloren, und inzwischen bezweifelte er, dass sie es selber schaffen wurden. Er zwang sich, den Blick von der rennenden Gestalt zu losen und nach vorn zu richten.
Die Welle war riesig. Sie mochte an die drei?ig Meter hoch sein, eine senkrechte Wand aus tosendem, schwarzgrunem Wasser. Wenige hundert Meter trennte sie noch vom Ufer, aber sie naherte sich mit der Geschwindigkeit eines Eilzuges, und das bedeutete, dass ihnen allenfalls Sekunden blieben bis zur Kollision. Die Zeit reichte eindeutig nicht aus, um den Mann an Bord zu nehmen und zugleich den heransturmenden Wassermassen zu entkommen. Dennoch versuchte der Pilot ein letztes Mal, den Helikopter nah genug an den Fluchtenden heranzubringen. Vielleicht hoffte er, der Mann konne sich mit einem Sprung durch die offene Tur ins Innere retten, eine der Kufen zu fassen bekommen, irgendwas von dem, was man standig im Kino sah und was dort regelma?ig klappte, wenn man Bruce Willis hie? oder Pierce Brosnan.
Der Wissenschaftler stolperte und schlug der Lange nach hin.
Das war’s dann, dachte Johanson.
Vor ihnen wurde es dunkel. Kein Himmel war mehr zu sehen durch die Cockpitscheiben, nichts au?er der Front der Welle. Sie fullte ihr Blickfeld nach allen Seiten aus, schob sich mit rasender Geschwindigkeit auf sie zu. Sie hatten ihre Chance vertan. Alle Moglichkeiten waren zunichte. Ein senkrechter Aufstieg wurde sie auf halber Hohe mit dem gigantischen Brecher kollidieren lassen. Flohen sie dicht uber dem Boden landeinwarts, sparten sie zwar die Zeit fur den Aufstieg, aber dennoch wurde sie das Wasser einholen. Der Tsunami war auf alle Falle schneller, und au?erdem mussten sie den Bell zuvor wenden. Auch dafur reichten die verbleibenden Sekunden nicht.
In einem Anflug von Distanziertheit fragte sich Johanson, wie er den Anblick der senkrechten Wasserfront ertrug, ohne daruber den Verstand zu verlieren. Dann holte ihn die Wirklichkeit wieder ein, als der Pilot das einzig Richtige tat, indem er den Helikopter zugleich ruckwarts und in die Hohe steuerte. Die Nase des Bell senkte sich ab. Fur die Dauer eines Augenblicks war der Erdboden durch die Cockpitscheiben zu sehen, aber sie sturzten nicht darauf zu, sondern bewegten sich in aufstrebendem Ruckwartsflug vom Boden und von der heranrasenden Welle weg. Der Bell heulte auf, als wolle das Getriebe explodieren. Johanson hatte nie geglaubt, dass ein Helikopter zu einem solchen Manover fahig war — vielleicht hatte es nicht mal der Pilot geglaubt —, aber es funktionierte.
Die kollabierende Welle geiferte ihnen nach wie ein hungriges Tier. Sie fegte uber den Strand und begann, in sich zusammenzusturzen. Berge aus Gischt folgten dem Bell auf seiner irrwitzigen Flucht. Der Tsunami brullte und kreischte. Im nachsten Moment erschutterte ein furchterlicher Schlag den Helikopter, und Johanson wurde gegen die Seitenwand geschleudert, gleich neben die offene Tur. Wasser klatschte ihm ins Gesicht. Sein Kopf knallte gegen die Bordwand, und er sah dunkelrote Blitze. Seine Finger bekamen Metall zu fassen, eine Strebe, krallten sich daran fest. Stechender Schmerz durchraste ihn. Er vermochte nicht zu sagen, ob das schreckliche Brausen in seinen Ohren noch von der Welle herruhrte oder schon aus seinem Kopf kam, ob sie stiegen oder fielen. Sein einziger Gedanke war, dass die Welle sie am Ende doch gekriegt hatte und dass sie nun zerschmettert wurden, und er wartete auf das Ende.
Dann klarte sich sein Blick. Die Kabine hing voller Spruhwasser. Zerfetzte graue Wolken trieben uber dem Helikopter dahin.
Sie hatten es geschafft.
Sie waren entkommen. Sie waren nicht in den Tsunami gesturzt, sondern mit knapper Not uber den Kamm gelangt.
Der Helikopter stieg weiter, wobei er eine Kurve flog, sodass sie nun die Kuste unter sich erkennen konnten. Aber es gab keine Kuste mehr. Dort unten war nichts au?er einer wilden Flut, die mit unverminderter Geschwindigkeit vorwarts drangte und das Land verschluckte. Die Station, die Fahrzeuge und der Wissenschaftler waren verschwunden. Weit entfernt zur Rechten, wo die Steilkuste begann, explodierten glitzernde Gischtfontanen an den Klippen und schossen endlos empor in den Himmel, weit uber die Flughohe des Bell hinaus, als wollten sie sich mit den Wolken vereinen.
Weaver rappelte sich hoch. Sie war uber die Sitzbanke gesturzt, als der Wasserschwall den Bell getroffen hatte. Sie starrte hinaus und sagte immer wieder: »Oh Gott!«
Der Pilot schwieg. Sein Gesicht war aschfahl, seine Kiefer mahlten.
Aber er hatte es geschafft.
Sie setzten der Welle nach. Die Wassermassen rasten schneller uber den Untergrund dahin, als der Helikopter zu folgen vermochte. Eine Anhohe kam in Sicht, und die Flut schoss daruber hinweg und ergoss sich schaumend in die dahinter liegende Ebene, kaum in ihrer Geschwindigkeit gebremst. Flach, wie das Gelande hier war, wurde sie kilometerweit ins Landesinnere vordringen. Johanson sah die Ebene ubersat mit wei?en Flecken und erkannte, dass es Schafe waren, die in wilder Flucht davonstoben, und dann waren auch die Schafe verschwunden.
Eine Kustenstadt, dachte er, ware ausradiert worden.
Nein, falsch. Sie wird ausradiert werden. Nicht nur eine. Annahernd jede Stadt, die an den Kusten der nordlichen Meere lag, wurde im Mahlstrom versinken. Der Tsunami, wo immer er entstanden war, breitete sich in diesem Augenblick ringformig aus, wie es der Natur von Impulswellen entsprach. Seine zerstorerische Wucht wurde bis nach Norwegen reichen, bis nach Holland, Deutschland, Schottland und Island. Schockartig wurde ihm bewusst, welche Katastrophe sich da ereignete, und er krummte sich, als habe ihm jemand ein gluhendes Eisen in den Unterleib gesto?en.
Ihm fiel ein, wer gerade in Sveggesundet war.
Man konnte den Gebrudern Hauffen einen gewissen Unterhaltungswert nicht absprechen, fand Lund. Sie taten wei? Gott alles, um sie zum Bleiben zu bewegen. Sie verstiegen sich sogar zu der Aussage, beide weit bessere Liebhaber zu sein als Kare Sverdrup, wobei sie einander in die Seiten stie?en und zuzwinkerten, und Lund musste noch einen Schnaps mit ihnen trinken, bevor sie endlich einwilligten, sie ziehen zu lassen.