Der Schwarm - Schatzing Frank (читать книги TXT) 📗
Das meiste jedoch donnerte den Faroer-Shetland-Kanal hinab wie auf einer gigantischen Rutsche. Nichts stoppte den Niedergang. Dasselbe Tiefseebecken, das Tausende von Jahren zuvor die Storegga-Rutschung in sich aufgenommen hatte, fullte sich jetzt mit einer noch gro?eren Lawine, die unaufhaltsam vordrang und dabei einen gewaltigen Sog erzeugte.
Dann brach die Schelfkante ab.
Sie riss auf einer Breite von funfzig Kilometern einfach weg. Und das war nur der Beginn von allem.
Direkt nach Johansons Abflug hatte Tina Lund ihr Gepack in Johansons Jeep verladen und war losgefahren.
Sie fuhr schnell. Beginnender Regen verschmierte die Stra?e. Johanson hatte wahrscheinlich protestiert, aber Lund war der Meinung, was der Wagen hergab, sollte man ihm auch abverlangen. Im dem truben Wetter gab es ohnehin nicht viel zu sehen.
Mit jedem Kilometer, den sie sich Sveggesundet naherte, fuhlte sie sich leichter werden.
Der Knoten war geplatzt. Nachdem die Sache mit Stone geklart war, hatte sie unverzuglich Kare Sverdrup angerufen und ihm vorgeschlagen, ein paar Tage zusammen am Meer zu verbringen. Sverdrup war erfreut gewesen und auch einigerma?en verblufft, wie ihr schien. Etwas an seiner Reaktion lie? sie ahnen, dass Johanson Recht behalten hatte. Dass sie den Zickzackkurs der vergangenen Wochen in letzter Sekunde begradigt hatte, weil Kare Sverdrup sonst weg gewesen ware. Einen Moment lang hatte sie die Angst gepackt, es verpatzt zu haben, und sie hatte sich Worte sagen horen, die fur ihre Verhaltnisse geradezu beunruhigend verbindlich klangen.
Johanson hatte ein Haus niedergerissen. Nun gut. Man konnte ja mal versuchen, eines zu bauen.
Als der Jeep nach rascher Fahrt die uferwarts fuhrende Hauptstra?e von Sveggesundet entlangrollte, fuhlte sie, wie sich ihr Puls beschleunigte. Sie parkte den Wagen auf einem offentlichen Platz oberhalb des Fiskehuset. Von dort fuhrten eine Zufahrt und ein Fu?weg zum Strand. Ein richtiger Sandstrand war es nicht. Moose und Farne uberwucherten Geroll und flaches Gestein. Die Landschaft um Sveggesundet war zwar flach, aber romantisch wild, und das Fiskehuset mit seiner Terrasse, direkt am Meer gelegen, bot einen besonders schonen Ausblick, selbst heute im Regen und bei schlechter Sicht.
Lund schlenderte die paar Schritte bis zum Restaurant und trat ein. Sverdrup war nicht dort, und geoffnet war auch noch nicht. Eine Kuchenhilfe trug Kisten mit Gemuse hinein und lie? sie wissen, Sverdrup habe im Ort zu tun. Vielleicht sei er auf der Bank oder beim Friseur oder sonst wo, jedenfalls habe er keine Aussage daruber getroffen, wann mit seiner Ruckkehr zu rechnen sei.
Selber schuld, dachte Lund.
Sie hatten sich hier verabredet. Vielleicht lag es an der Raserei in Johansons Jeep, aber sie war eine Stunde zu fruh dran. Wie hatte sie sich so verschatzen konnen? Sie wurde sich ins Restaurant setzen und warten mussen. Aber das war blode. Es wurde unpassend aussehen: Kuckuck, schau mal, wer schon da ist! Oder schlimmer noch: He, Kare, wo warst du, ich warte die ganze Zeit auf dich!
Sie trat hinaus auf die Terrasse des Fiskehuset. Regen schlug ihr ins Gesicht. Andere waren sofort wieder ins Innere gegangen, aber Lund besa? kein Empfinden fur schlechtes Wetter. Sie hatte ihre Kindheit auf dem Land verbracht. Sie liebte sonnige Tage, aber Sturm und Regen taten’s auch. Genau genommen fiel ihr erst jetzt auf, dass die Boen, die den Jeep wahrend der letzten halben Stunde durchgeruttelt hatten, in einen handfesten Sturm umgeschlagen waren. Es war nicht mehr so dunstig, dafur jagten die Wolken nun tiefer uber den Himmel. So weit sie blicken konnte, war die See gefurcht und mit wei?er Gischt uberzogen.
Etwas kam ihr seltsam vor.
Sie war oft genug hier gewesen, um die Gegend hinreichend zu kennen. Dennoch schien es ihr, als sei das Ufer breiter als sonst. Kies und Felsen erstreckten sich weiter ins Meer als gewohnlich, trotz der hereinrollenden Wellen. Es hatte beinahe den Anschein, als finde eine au?erplanma?ige Ebbe statt.
Du musst dich irren, dachte sie.
Kurz entschlossen zog sie ihr Handy hervor und wahlte Sverdrups Mobilnummer. Sie konnte ihm ebenso gut sagen, dass sie schon hier war. Besser, als wenn die Uberraschung misslang. Wahrscheinlich sah sie Gespenster, aber es war ihr lieber, dass er es wusste. Ein langes Gesicht oder auch nur den geringsten Mangel an Freude konnte sie heute schlecht vertragen.
Es schellte viermal, dann meldete sich seine Mailbox.
Auch gut. Das Schicksal hatte es anders gewollt.
Dann eben warten.
Sie strich sich das nass gewordene Haar aus der Stirn und ging wieder nach drinnen in der Hoffnung, wenigstens die Kaffeemaschine in Bereitschaft vorzufinden.
Das Meer war voller Ungeheuer.
Seit Menschengedenken bot es Raum fur Mythen, Metaphern und Urangste. Odysseus’ Gefahrten fielen der sechskopfigen Scylla zum Opfer. Poseidon schuf aus Arger uber Cassiopeias Hochmut das Ungeheuer Cetus und schickte Laokoon aus Rache fur den Verrat an Troja eine riesige Seeschlange auf den Hals. Den Sirenen lie? sich nur mit Wachs in den Ohren beikommen. Nixen, Meeressaurier und Riesenkraken machten die Phantasie unsicher. Vampyrotheutis infernalis schlie?lich wurde zum Antipoden aller menschlichen Werte. Selbst das gehornte Tier aus der Bibel war dem Meer entstiegen. Und ausgerechnet die Wissenschaft, ihrem Wesen nach der Skepsis verschrieben, predigte neuerdings den wahren Kern all der Legenden und atemlosen Berichte, seit man den Quastenflosser wieder gefunden und die Existenz des Riesenkalmars bewiesen hatte. Nachdem die Menschen jahrtausendelang Furcht empfunden hatten vor den Bewohnern der Abyssale, heftete man sich nun begeistert an ihre Fersen. Dem aufgeklarten Geist war nichts heilig, nicht einmal mehr die Angst. Die Ungeheuer waren zu besseren Spielkameraden geworden, die echten ebenso wie die eingebildeten, Pluschtiere der Forschung.
Bis auf eines.
Es war das schlimmste von allen. Es versetzte auch den abgeklartesten Verstand in Panik. Wann immer es sich aus dem Meer erhob und uber das Land kam, brachte es Tod und Zerstorung. Seinen Namen verdankte es japanischen Fischern, die auf hoher See nichts von seinem Schrecken mitbekamen, um bei ihrer Ruckkehr ihr Dorf verwustet und ihre Angehorigen tot vorzufinden. Sie hatten ein Wort fur das Ungeheuer gefunden, das wortlich ubersetzt »Welle im Hafen« bedeutete. Tsu fur Hafen, Nami fur Welle.
Tsunami.
Albans Entscheidung, Kurs auf tiefe Gewasser zu nehmen, zeigte, dass er das Ungeheuer und seine Eigenarten kannte. Der gro?te Fehler ware gewesen, den vermeintlich schutzenden Hafen anzulaufen.
Also tat er das einzig Richtige.
Wahrend sich die Thorvaldson durch schwere Seen kampfte, sturzten Kontinentalhang und Schelfkante weiter in die Tiefe. Der entstehende Sog senkte den Meeresspiegel auf gro?er Flache ab. Wellen breiteten sich um die Absturzstelle aus und rasten ringformig nach allen Seiten los. Uber dem Zentrum der Erschutterung, einem Gebiet von immerhin mehreren tausend Quadratkilometern, waren sie noch so flach, dass sie sich in dem tobenden Sturm nicht bemerkbar machten. Die Amplitude betrug knapp einen Meter uber dem Meeresspiegel.
Dann jedoch erreichten sie flaches Schelfgebiet.
Alban hatte beizeiten gelernt, was Tsunamiwellen von herkommlichen Wellen unterschied, namlich so ziemlich alles. Ublicherweise entstand Seegang durch Luftbewegung. Wenn die Sonneneinstrahlung die Atmosphare aufheizte, verteilte sich die Erwarmung nicht immer gleichma?ig uber die ganze Erdoberflache. Ausgleichende Winde entstanden, die an der Wasseroberflache Reibung und dadurch Wellen erzeugten. Selbst Orkane schaukelten die See kaum funfzehn Meter auf. Riesenwellen wie die beruchtigten Freak Waves bildeten die Ausnahme. Die Spitzengeschwindigkeit normaler Sturmwellen lag bei neunzig Stundenkilometern, und die Wirkung des Windes blieb auf die oberen Meeresschichten beschrankt. Ab einer Tiefe von zweihundert Metern war alles ruhig.