Der Schwarm - Schatzing Frank (читать книги TXT) 📗
»Oh Gott. Das ist nicht London.«
»Jeder von denen hat eine spezielle Aufgabe, bestimmte Handgriffe, die er verrichten muss. Aber keiner kennt den ganzen Plan. Trotzdem bauen sie zusammen das Haus. Wenn du welche austauschen wurdest, gabe es Pannen. Zehn Arbeiter, die eine Kette bilden, um einander Steine zuzuwerfen, kommen durcheinander, wenn einer von ihnen plotzlich durch jemanden ersetzt wird, der Schrauben anziehen soll.«
»Verstehe. Solange jeder an seinem Platz ist, klappt die Sache.«
»Sie wirken zusammen.«
»Und trotzdem gehen sie abends nach Hause.«
»Trudeln auseinander. Jeder in seine Richtung. Am nachsten Morgen erscheinen sie alle wieder auf der Baustelle, und es geht weiter. Du kannst sagen, das funktioniert, weil jemand die Arbeiter einteilt, aber ohne Arbeiter konnte er das Haus nicht bauen. Eines bedingt das andere. Aus dem Plan entsteht das Zusammenwirken, und daraus wiederum entsteht der Plan.«
»Also gibt es einen Planer.«
»Oder die Arbeiter sind der Plan.«
»Dann musste jeder Arbeiter ein bisschen anders codiert sein als sein Kollege. Was er ja auch ist.«
»Richtig. Die Arbeiter sind also nur scheinbar gleich. Also fang noch weiter vorne an. Okay, es gibt einen Plan. Okay, sie sind codiert. Aber was brauchst du, damit daraus ein Netzwerk wird?«
Weaver uberlegte. »Den Willen mitzumachen?«
»Einfacher.«
»Hm.« Plotzlich begriff sie, was Anawak meinte.
»Kommunikation. In einer Sprache, die alle verstehen. Eine Botschaft.«
»Und wie hei?t die, wenn morgens alle aus den Betten kriechen?«
»Ich geh zum Bau, arbeiten.«
»Und?«
»Ich wei?, wo ich hingehore.«
»Richtig. Gut, es sind Arbeiter, wenig geeignet fur komplexe Konversation. Hart arbeitende Burschen. Sie schwitzen standig, selbst nachts im Bett schwitzen sie und morgens, wenn sie aufstehen, den ganzen Tag lang. Woran erkennen sie einander?«
Weaver sah ihn an und verzog das Gesicht.
»Am Schwei?geruch.«
»Bingo!«
»Du hast vielleicht Phantasien.«
Anawak lachte. »Das ist Olivieras Schuld. Sie hat vorhin von diesem Bakterium erzahlt, das Kolonien bildet … Myxococcus xanthus. Wei?t du noch, es sondert einen Duftstoff ab, und alle rucken zusammen.«
Weaver nickte. Das machte Sinn. Duft war eine Moglichkeit. »Das durchdenke ich im Schwimmbad«, sagte sie.
»Kommst du mit?«
»Schwimmen? Jetzt?«
»Schwimmen? Jetzt?«, affte sie ihn nach. »Hor zu, ich bin normalerweise nicht in einen Raum eingeschlossen und sitze starr auf der Stelle.«
»Ich dachte, das ware normal bei Computerfreaks.«
»Sehe ich aus wie ein Computerfreak? Blass und wabbelig?«
»Oh, du bist mit Sicherheit die blasseste und wabbeligste Erscheinung, die mir jemals untergekommen ist«, grinste Anawak.
Sie bemerkte das Funkeln in seinen Augen. Der Mann war klein und kompakt, wei? Gott nicht George Clooney, aber auf Weaver wirkte er in diesem Moment gro?, selbstbewusst und gut aussehend.
»Idiot«, sagte sie lachelnd.
»Danke.«
»Blo? weil du dein halbes Leben im Wasser verbringst, glaubst du, Computerleute sind an ihren Stuhlen festgewachsen. Das meiste mache ich in freier Natur. Mit meinem Kopf, Leon! Laptop ins Gepack, Abmarsch. Schreiben kannst du auch in einer Felswand. So was hier verspannt mich, ich bekomme davon Schultern wie Stahltrager.«
Anawak stand auf und trat hinter sie. Einen Moment lang glaubte Weaver, er wolle gehen. Dann spurte sie plotzlich seine Hande auf ihren Schultern. Seine Finger strichen uber die Strange der Nackenmuskulatur, die Daumen kneteten den Bereich um die Schulterblatter.
Er massierte sie.
Weaver fuhlte, wie sie sich verkrampfte. Sie war sich nicht sicher, ob ihr das gefiel.
Doch, es gefiel ihr. Sie wusste nur nicht recht, ob sie es wollte.
»Du bist nicht verspannt«, sagte Anawak.
Er hatte Recht. Warum hatte sie es dann gesagt?
Im Moment, da sie sich etwas zu ruckartig aus ihrem Sessel erhob und seine Hande von ihr abglitten, wusste sie, dass sie einen Fehler machte. Dass es ihr besser gefallen hatte, sitzen zu bleiben und ihn weitermachen zu lassen. Aber dafur hatte sie das Ganze wohl zu rude beendet.
»Ich geh dann mal«, sagte sie verlegen. »Schwimmen.«
Unsicher fragte er sich, was schief gelaufen war. Er ware gern mitgegangen ins Schwimmbad, aber die Stimmung war plotzlich umgekippt. Vielleicht hatte er fragen sollen, bevor er anfing, ihre Schultern zu massieren. Vielleicht hatte er die ganze Sache auch nur von Grund auf falsch eingeschatzt.
Du bist eben ungeschickt in so was, dachte er. Bleib bei deinen Walen. Bloder Eskimo.
Er lie? sie ziehen und uberlegte, Johanson aufzusuchen und mit ihm die Erorterung der Einzeller-Intelligenz fortzusetzen. Aber irgendwie war ihm plotzlich die Lust daran vergangen. Also beschloss er, nebenan im CIC vorbeizuschauen. Greywolf und Delaware verbrachten dort gro?e Teile ihrer Zeit mit der Beobachtung und Lautauswertung der Delphinstaffeln. Aber im CIC gab es nichts zu sehen als die Ubertragungen der Rumpfkameras.
Die Monitore zeigten dunkles Wasser. Wenig hatte sich getan, seit die Orcas am Morgen das Schiff umrundet hatten, und die Orcas waren fort, wie es schien. Shankar sa? einsam mit einem Paar uberdimensionaler Kopfhorer vor dem Monitor, uber dessen Oberflache Zahlenreihen huschten, und lauschte in die Tiefe. Einer der Manner an den Bildschirmen erklarte ihm, Greywolf und Delaware seien im Welldeck, um MK-6 gegen MK-7 auszutauschen.
Also marschierte er den Rampentunnel hinunter und gelangte auf das leere Hangardeck. Es war kalt und zugig dort. Er wollte weitergehen, aber etwas hielt ihn zuruck. Obwohl Tageslicht durch die torgro?en Offnungen der Au?enfahrstuhle hereindrang, dominierte das fahle, gelbliche Zwielicht der Natriumdampfbeleuchtung die Atmosphare. Er versuchte sich vorzustellen, wie die riesige Halle gedrangt voll stand mit Hubschraubern und Harrier-Jets, Fahrzeugen, Fracht und Ausrustung, zentimeternah aneinander geparkt, sodass eben genug Platz blieb, um durch eine Tur, ein Fenster oder eine Klappe hineinzuschlupfen. Wie Jeeps und Gabelstapler laut und ratternd die Rampen hoch— und runterfuhren. Wie Hunderte emsiger Marines, sobald sich das Fluggerat auf dem Dach befand, hier Waffen und Ausrustung uberpruften, schnell und konzentriert, wie die ganze, gewaltige Maschinerie der Independence ineinander griff.
Absurd, dieser Riesenraum in seiner Leere. Nutzlos. Die Buros zwischen den Spanten unbesetzt. Die gelben Lampen im Stahltragermuster der hohen, dusteren Decke beleuchteten vornehmlich sich selber. Rohrleitungen entlang der Wande fuhrten ins Nichts. Und uberall Warnschilder — fur wen?
»Manchmal, wenn es im Fitnessraum eng wird, stellen wir hier noch ein paar Laufbander mit rein«, hatte Peak gesagt, als sie in Norfolk zusammen durch das Schiff gewandert waren. »Dann wird es erst richtig gemutlich.« Er hatte stirnrunzelnd dagestanden, als suche er nach etwas. Und dann hatte er hinzugefugt: »Ich hasse es, wenn der Hangar so leer ist. Ich hasse diese Verlassenheit von Raumen, die nicht leer sein durften. Irgendwie hasse ich diese ganze Mission.«
Es war das einzige Mal, dass er Peak so erlebt hatte.
Der leerste Raum, dachte Anawak, ist immer in einem selber.
Ohne Eile ging er quer durch die Halle und trat hinaus auf die Plattform des Backbordaufzugs. Der Lift ragte uber die Wellen wie eine gro?zugig bemessene Sonnenterrasse. Beiderseitig der Toroffnung ruhte er in senkrechten Laufschienen. Zwei gro?e Hubschrauber mit zusammengelegten Rotorblattern fanden auf der uber 140 Quadratmeter gro?en Flache Platz, um vom Hangardeck hinauf aufs Dach gestemmt zu werden. Anawak kniff die Augen zusammen. Der Wind blies ihn ordentlich durch. Eine starke Bo konnte einen unvermittelt von den Fu?en hebeln und uber die Kante wehen, und nirgendwo gab es ein Gitter. Stattdessen zogen sich Auffangnetze um den Lift. Ein ganzer Ring solcher Netze umgab das Schiff, damit einen der Sturm oder der Aussto? von Flugzeugabgasen nicht in die See warf.