Die geheime Reise der Mariposa - Michaelis Antonia (прочитать книгу TXT) 📗
Jonathan traumte wieder von Hamburg. Der Flieder bluhte, wei? und violett, und die Luft war schwer vom Duft. In der Kuche lag auf dem Tisch ein Brief, und in diesem Brief stand, dass sein Vater nicht aus Frankreich zuruckkommen wurde. Der Briefumschlag war ein Sarg aus Papier. Er lag schon seit mehreren Wochen auf dem Kuchentisch. Weder Julia noch er wagten, ihn von dort wegzunehmen. Sie stellten die Teller drum herum, als bemerkten sie ihn nicht. Mama musste den Brief wegnehmen.
Im Traum lief Jonathan die Treppe hinauf, er kam von der Schule. Er wusste, er wurde in eine stille Wohnung kommen, still und schwarz … Aber als er die Tur offnete, horte er Mama singen. Sie sang beim Kochen. Julia stand auf einem Stuhl neben ihr und half ihr. Kochen. Und singen. Der Brief lag nicht mehr auf dem Kuchentisch.
»Ist etwas … passiert?«, erkundigte sich Jonathan vorsichtig und stellte seine Schultasche ab.
»Ja«, antwortete Mama, drehte sich um und lachelte ihn an. »Wir leben weiter.«
Sie trug Papas alte karierte Schiebermutze, obwohl es doch drinnen in der Kuche Unsinn war, eine Mutze zu tragen. Die Mutze sah ziemlich mitgenommen aus, aber es tat gut, sie zu sehen. Jonathan hatte aus irgendeinem Grund gedacht, Papa hatte die Mutze mitgenommen. Aber naturlich hatte er eine Uniform getragen, da drau?en.
»Wir leben weiter«, sagte Jonathan und begann den Tisch zu decken. »Ach so.«
Er schlug die Augen auf und lag einen Moment ganz still. Es war ein so schoner Traum gewesen. Eine so schone Erinnerung. Er wunschte, er hatte nur diese eine, einzige Erinnerung behalten konnen und alle anderen vergessen.
Auch die Erinnerung an den letzten Tag. An Joses Griff. Was wusste Jose? War er irgendwie doch dahintergekommen, dass Jonathan nicht aus London stammte? Aber wieso glaubte er, Jonathan hatte sein Gewehr beseitigt? Er spurte die Stellen an seinen Armen noch, wo er ihn gepackt und zu Boden gedruckt hatte. Sie taten weh. Aber tief in ihm tat etwas noch viel mehr weh. Und das war die Kalte in Joses Stimme gewesen. Er hatte gedacht, sie waren Freunde geworden. Er hatte sich getauscht.
Als er an Deck kam, hatte Jose Kaffee gekocht.
»Guten Morgen«, sagte er. Jonathan nickte nur und nahm die Blechtasse, die Jose ihm hinhielt. Oskar und Eduardo waren bereits mit einer weiteren Dose Suppe beschaftigt und Carmen sa? auf den Hinterpfoten und lie? sich von Jose mit Brotstuckchen futtern.
»Ich habe noch ein Brot gefunden«, sagte Jose. »Eingeschwei?t.«
»Hm«, sagte Jonathan.
»Jonathan, wegen gestern …« Jose sah ihn an. In seiner Stimme war keine Kalte mehr. »Ich habe mich getauscht.«
Er streckte die Hand aus und Jonathan wich zuruck. Dann zwang er sich, sitzen zu bleiben. Jose schob einen seiner Armel hoch. Man sah seine Fingerabdrucke noch immer als diffuse blaue Flecken.
»Das tut mir leid«, murmelte Jose.
Jonathan begriff nicht. »Warum?«, fragte er. »Glaubst du auf einmal nicht mehr, dass ich dein Gewehr genommen habe?«
»Ich … habe es gefunden«, sagte Jose.
Jonathan sah sich um. Aber er konnte die Mauser nirgends entdecken. Und dann fiel sein Blick auf den Kompass. Der Kurs stimmte nicht mehr. Die Mariposa hatte um fast 180 Grad gedreht.
»Wir … wir segeln in die vollkommen falsche Richtung«, sagte er.
Jose schuttelte den Kopf. »Nein. Der Kompass ist kaputt. Ich bin gestern Nacht ausgerutscht und mit dem Fu? dagegengekommen. Irgendetwas muss sich verstellt haben.«
Jonathan sah am Segel empor. Jose hatte ihm den Stander erklart, den kleinen schwarzen Pfeil auf der Mastspitze, der den Wind anzeigte. »Der Wind kam in den letzten Tagen standig aus Nordosten«, sagte er. »Und jetzt kommt er auf einmal aus Sudwesten?«
»Ja«, sagte Jose.
Jonathan schuttelte den Kopf. »Ich … ich verstehe ja nichts vom Segeln …«
»Nein«, sagte Jose und entfernte Carmens Schnauze aus seiner Kaffeetasse. »Aber ich werde es dir beibringen. Wir konnen keine halben Nachte mehr mit Motor fahren. Wir brauchen das Benzin fur Notfalle.« Er warf einen Blick zur Kajute, als er das sagte, einen merkwurdig wachsamen Blick. Vermutlich lag es daran, dass dort die Benzinkanister lagerten.
Jonathan hatte immer noch ein komisches Gefuhl. Aber er war zu erleichtert uber Joses Stimmungswandel, um etwas zu sagen. Im Grunde, dachte er, war es egal, wohin sie fuhren. Er wollte nicht zur Isla Maldita, es war Jose gewesen, der sie unbedingt hatte erreichen wollen. Vielleicht hatte er Angst bekommen. Vielleicht hatte seine Urgro?mutter ihm im Traum zu viel von den toten Piraten erzahlt, die dort umgingen. Vielleicht wollte er nur nicht zugeben, dass er umgekehrt war. Nach dem, was Jonathan uber die Seekarte wusste, wurde der neue Kurs sie zuruckfuhren, an Santiago vorbei diesmal, zur gro?ten der Inseln: Isabela.
Er versuchte sich keine Sorgen zu machen und konzentrierte sich darauf, von Jose das Segeln zu lernen. Und so verbrachten sie die nachsten Stunden, die nachsten Tage: Jose erklarte, langsam und ausfuhrlich diesmal, und Jonathan musste alles wiederholen.
Er lernte das Dichtholen und das Auffieren der Segel, er lernte zu wenden und zu halsen. Er lernte, wie man ein Boot in den Wind stellt, sodass er von vorn kam und die Fahrt gestoppt wurde, und wie man es bei starkem Wind mit knatternden Segeln dicht am Wind hielt, um zu viel Krangung zu vermeiden. Er lernte, dass die Krangung die Schraglage des Boots war. Er lernte, dass der Wind von Luv nach Lee wehte und man deshalb beim Pinkeln darauf achten musste, auf der Leeseite zu stehen … aber er zog es ohnehin vor, den Eimer unter Deck zu benutzen. Er lernte und lernte und lernte. Und die Sonne brannte hei? auf sie herunter, und Jose zog sein Hemd aus und legte es auf seinen Kopf, um keinen Sonnenstich zu bekommen. Jonathan benutzte dazu lieber die alte Schiebermutze.
»Wenn ich anfange, mich auszuziehen, verbrenne ich sofort«, sagte er.
»Ja«, sagte Jose und lachte, »da hast du wohl recht. Blass wie der Vollmond bist du, blass wie ein Schluck Milch.«
Sie teilten das Wasser in kleine Rationen ein. Der Regen blieb aus. Nur Suppen in Dosen hatten sie genug, und Jose sagte, sie konnten wohl mitten auf dem Pazifik ein Restaurant eroffnen, dessen Spezialitat Krabbensuppe ware.
»Ja«, sagte Jonathan. »Und dahinten kommen die ersten Kunden.«
An der Horizontlinie hingen jetzt zwei Schiffe fest. Er war sich ziemlich sicher, dass das gro?ere grau war. Die Roosevelt. Das Merkwurdige war, dass die Schiffe nicht naher kamen. Sie folgten der Mariposa wie zwei uberdimensionale Privatdetektive, die ab und zu stehen blieben, um unauffallig in ein Schaufenster zu sehen. Nur dass sie nicht unauffallig waren. Auf dem Pazifik, dachte Jonathan, herrschte ein bedenklicher Mangel an Schaufenstern.
»Sie steuern einfach den gleichen Kurs«, sagte Jose. »Zufallig.«
»Ganz zufallig«, murmelte Jonathan.
Am dritten Tag seit ihrem Aufbruch von Santiago sa? Jonathan am Bug und nahm unter Oskars hungrigen Blicken einen Fisch aus – auch das hatte er gelernt –, als etwas aus dem Himmel sturzte. Oskar stie? einen erschrockenen Laut aus und Jonathan duckte sich, dann taumelte das Etwas dicht uber sie hinweg und stolperte in einem Wirrwarr aus wei?en und dunklen Federn uber das Deck.
»Was ist das?«, rief Jose vom Heck aus beunruhigt.
Das Etwas schuttelte sich. Es war ein Vogel. Ein riesiger wei?er Vogel mit einem langen gelben Schnabel. Er stand auf gro?en grauen Fu?en und sah sich um, als suchte er etwas.
»Oje«, sagte Jonathan. »Ein Albatros. Hor mal, Albatros, du bist hier falsch. Noch mehr Leute konnen wir nicht mit Suppe futtern.«
»Das ist ein Albatros?«, fragte Jose. »Ich habe noch nie einen gesehen. Es hei?t, sie bruten auf Espanola, einer der sudlichen Inseln. Ich glaube, sie fliegen zu Beginn der Regenzeit nach Ecuador. Meinst du, dieser hier hat sich verflogen?«
»Nein«, sagte Jonathan. »Er hat sich verlandet.«