Der Schwarm - Schatzing Frank (читать книги TXT) 📗
»Es existiert also noch.«
»Was wir sehen, existiert. Aber wir wissen nicht, wie viel vorher da war und wie viel zersetzt wurde. Der Blasenaustritt halt sich im tolerierbaren Bereich. Ich wurde mit einiger Vorsicht sagen, dass wir zumindest nicht unerfolgreich waren.«
»Doppelte Verneinung ist auch ein Ja«, nickte Frost befriedigt und stand auf. »Ich hole uns einen Kaffee.«
Anschlie?end hatten sie stundenlang weiter zugesehen, wie der Sauger das Plateau abgraste, bis ihnen die Augen brannten. Schlie?lich scheuchte van Maarten Frost ins Bett, damit er sich ausruhte. Frost und Bohrmann hatten drei Nachte lang kaum geschlafen. Wahrend Frost noch protestierte, fielen ihm die Augen zu, und er wankte mit letzter Kraft in seine Kammer.
Bohrmann blieb mit van Maarten zuruck. Es war 23.00 Uhr.
»Sie sind der Nachste, der schlafen geht«, bemerkte der Hollander.
»Ich kann nicht schlafen gehen.« Bohrmann fuhr sich uber die Augen. »Au?er mir kennt sich niemand hinreichend mit Hydraten aus.«
»Doch, wir kennen uns aus.«
»Es dauert ja nicht mehr lange«, sagte Bohrmann.
Er war wirklich am Ende. Die Pilotenteams waren schon dreimal ausgetauscht worden. Aber in wenigen Stunden wurde Erwin Suess mit dem Helikopter aus Kiel eintreffen, und so lange musste er eben noch durchhalten.
Er gahnte. Mittlerweile war die Nacht hereingebrochen. Leises Summen erfullte den Raum. Die Lichtinsel und der Sauger waren im Verlauf der letzten Stunden langsam, aber stetig nach Norden vorgeruckt. Wenn die Daten der Polarstern -Expedition zutrafen, tummelten sich die Wurmer nur auf dieser Terrasse. Er schatzte, dass es noch einige Tage dauern wurde, um sie ganzlich abzusaugen, aber inzwischen regte sich wieder Hoffnung in ihm. Der Blasenaustritt lag uber dem zu erwartenden Wert, gab jedoch nicht wirklich Anlass zur Besorgnis. Wenn die Wurmer und die Bakterienhorden verschwanden, wurden sich angefressene Hydrate vielleicht wieder stabilisieren.
Mit gesenkten Lidern beobachtete er die Monitore.
Seine Mudigkeit war schuld, dass die Veranderungen erst in sein Bewusstsein drangen, nachdem er schon eine Weile darauf gestarrt hatte. Er beugte sich vor.
»Da glitzert was«, sagte er. »Nehmen Sie den Sauger weg.«
Van Maarten kniff die Augen zusammen. »Wo?«
»Schauen Sie auf die Monitore. In dem Gewuhl blitzte eben was auf. — Da, schon wieder!«
Auf einmal war er hellwach. Jetzt zeigten auch die Kameras der Lichtinsel, dass etwas nicht stimmte. Die obligatorische Sedimentwolke um den Schlund des Saugers hatte sich aufgeblaht. Dunkle Brocken und Blasen wirbelten darin herum und trieben nach oben.
Die Saugerbildschirme wurden schwarz. Der Schlund des Russels schlug zur Seite aus.
»Verdammt, was passiert da?«
Aus dem Lautsprecher drang die Stimme des Piloten:
»Wir ziehen gro?ere Sachen in uns rein. Der Sauger wird instabil. Ich wei? nicht, ob …«
»Weg damit!«, rief Bohrmann. »Weg vom Hang!«
Schon wieder, dachte er verzweifelt. Wie damals auf der Sonne. Ein Blowout. Sie hatten zu lange auf dieselbe Stelle gehalten, und hier war das Plateau instabil geworden. Der Unterdruck riss das Sediment auseinander.
Nein, kein Blowout. Schlimmer noch.
Der Saugrussel versuchte sich aus der Sedimentwolke zuruckzuziehen. Sie blahte sich weiter auf, und plotzlich schien sie regelrecht zu explodieren. Eine Druckwelle erschutterte die Lichtinsel. Das Bild schwankte auf und nieder.
»Wir haben eine Rutschung«, schrie der Pilot.
»Schalten Sie den Sauger ab.« Bohrmann sprang auf. »Zuruckfahren.«
Jetzt erkannte er, wie von oben gro?ere Felsbrocken herabfielen. Lavagestein sturzte auf die Terrasse. Irgendwo in der Schlamm— und Trummerwolke wand sich kaum noch sichtbar der Schlauch des Saugrussels.
»Sauger ist ausgeschaltet«, bestatigte van Maarten.
Mit weit aufgerissenen Augen beobachteten sie den Verlauf der Rutschung. Mehr und mehr Gestein prasselte herab. Wenn sich der Effekt in der fast senkrechten Wand des Vulkankegels fortsetzte, wurden sich immer gro?ere Brocken losen. Vulkangestein war poros. Aus einer kleinen Rutschung wurde in Minutenschnelle eine gro?e werden, und am Ende wurde genau das eintreffen, was sie zu verhindern gesucht hatten.
Wir sollten uns in Gelassenheit fugen, dachte Bohrmann. Um zu fliehen, ist es ohnehin zu spat.
Ein sechshundert Meter hoher Wasserberg …
Das Geprassel horte auf.
Lange Zeit sagte niemand etwas. Sie hielten ihre Blicke nur stumm auf die Monitore geheftet. Uber der Terrasse stand eine diffuse Wolke, die das Licht der Halogenlampen streute und zuruckwarf.
»Es hat aufgehort«, sagte van Maarten mit unmerklich zitternder Stimme.
»Ja.« Bohrmann nickte. »Sieht so aus.«
Van Maarten rief die Piloten.
»Die Lichtinsel hat ordentlich gewackelt«, meldete das Beleuchterteam. »Ein Spot ist ausgefallen. Macht sich allerdings nicht bemerkbar, wenn man’s nicht wei?.«
»Und der Russel?«
»Scheint festzuhangen«, war der Bescheid aus dem anderen Kran. »Die Systeme erhalten nach wie vor ihre Befehle, aber sie sind offenbar nicht in der Lage, sie auszufuhren.«
»Schatze, der Schlund ist unter Trummern verschuttet«, mutma?te der andere Pilot.
»Wie viel kann da draufgefallen sein?«, fragte van Maarten leise.
»Erst muss sich die Wolke setzen«, erwiderte Bohrmann. »Sieht so aus, als seien wir mit einem blauen Auge davongekommen.«
»Gut. Dann mussen wir warten.« Van Maarten sprach ins Mikrophon. »Keine weiteren Versuche, den Russel frei zu bekommen. Kaffeepause. Ich will da unten keine unnotigen Erschutterungen. Wir warten eine Weile und sehen dann weiter.«
Drei Stunden spater sahen sie weiter. Stellenweise zwar nur wenige Meter, denn das Sediment hatte sich immer noch nicht vollstandig abgesetzt, aber die Mundung des Russels war einigerma?en gut zu erkennen. Inzwischen hatte sich auch Frost wieder eingefunden. Sein Haar stand in Korkenzieherlocken nach allen Himmelsrichtungen ab.
»Hat sich bose verkeilt«, konstatierte van Maarten.
»Ja.« Frost kratzte sich den Schadel. »Aber kaputt sieht er nicht aus.«
»Die Motoren sind blockiert.«
»Und wie kriegen wir ihn wieder frei?«
»Wir konnen einen Roboter runterschicken, der das Zeug beiseite raumt«, schlug Bohrmann vor.
»Heiliger Zorn Gottes und aller Engel!«, zeterte Frost. »Das kostet uns elend viel Zeit. Wo’s gerade so gut lief.«
»Wir mussen uns halt beeilen.« Bohrmann wandte den Kopf zu van Maarten. »Wie schnell konnen wir Rambo klarmachen?«
»Sofort.«
»Dann los. Versuchen wir’s.«
Rambo verdankte seinen Namen ganz unwissenschaftlich den Filmen mit Sylvester Stallone. Das ROV sah aus wie eine kleinere Version des Victor 6000, verfugte uber vier Kameras, diverse Heck-und Seitenstrahler zur Stabilisierung und zwei uberaus kraftige, gelenkige Greifarme. Das Gerat taugte nur fur Tiefen bis 800 Meter, war jedoch in der Offshore-Szene sehr beliebt. Innerhalb einer Viertelstunde war Rambo einsatzbereit. Kurze Zeit spater schwebte er am Vulkankegel entlang nach unten auf die Terrasse zu, uber ein elektrooptisches Kabel mit dem Pilotenstand auf der Heerema verbunden. Die Lichtinsel kam in Sicht. Der Roboter sank weiter, nahm Fahrt auf und manovrierte zu dem eingeklemmten Saugschlund. Aus der Nahe war deutlich zu erkennen, dass die Motoren und Videosysteme des Russels intakt waren, allerdings hatten sich einige Brocken des Vulkangesteins so unglucklich verkeilt, dass er hoffnungslos feststeckte.
Rambos Greifarme begannen, die Brocken abzuraumen. Zu Anfang sah es so aus, als konne der Roboter den Russel freibekommen. Er trug die Trummer nacheinander ab, bis er an einen schrag stehenden Zacken geriet, der sich ins Terrassensediment gebohrt hatte und den Russel gegen einen Felsvorsprung druckte. Die Arme fuhren aus und ein, drehten sich, versuchten den Zacken zu losen. Es war illusorisch.