Der Schwarm - Schatzing Frank (читать книги TXT) 📗
»Warum bringt ihr euch nicht alle um, damit sich niemand mehr fur euch schamen muss?«
Eine Sekunde lang hatte er mit dem Gedanken gespielt, seiner Empfehlung als Erster zu folgen und uber Bord zu springen.
Stattdessen war er Westkanadier geworden. Seine Pflegefamilie hatte sich in Vancouver niedergelassen, freundliche Leute, die seine Ausbildung nach Kraften unterstutzten, ohne dass man sich je wirklich aneinander gewohnte. Es blieb eine Zweckgemeinschaft. Als Leon 24 wurde, siedelten sie um nach Anchorage, Alaska. Einmal im Jahr schrieben sie eine Karte, die er mit wenigen, unverbindlichen Zeilen beantwortete. Besucht hatte er sie nie, und sie schienen es auch nicht zu erwarten. Wahrscheinlich, ware er nach Anchorage gefahren, hatten sie sich eher gewundert. Man konnte nicht sagen, dass sie sich fremd geworden waren — sie waren sich einfach nie nahe gewesen.
Sie waren nicht seine Familie.
Akesuks Vorschlag, gemeinsam aufs Land zu fahren, hatte neue Erinnerungen in Anawak wachgerufen. Die langen Abende am Feuer, wenn jemand eine Geschichte erzahlte und die ganze Welt belebt schien. Als er klein gewesen war, hatte es wie selbstverstandlich die Schneekonigin gegeben und den Barengott. Er hatte den Mannern und Frauen gelauscht, die noch in Iglus zur Welt gekommen waren, und sich vorgestellt, wie er als erwachsener Mann uber das Eis ziehen wurde, jagend und im Einklang mit sich und dem Mythos Arktis. Schlafen, wenn man mude wird. Arbeiten und jagen, wenn es die Witterung gestattet oder schlicht, wenn einem danach ist. Essen, wenn der Magen es verlangt und nicht irgendwelche Mittagspausen. Manchmal dauerte die Jagd einen Tag und eine Nacht, wenn man eigentlich nur kurz aus dem Zelt hatte gehen wollen. Manchmal rustete man sich, und die Jagd fand nicht statt. Den Quallunaat war diese augenscheinliche Unorganisiertheit der Inuit immer suspekt gewesen. Quallunaat verstanden einfach nicht, wie man au?erhalb geregelter Zeitplane und Leistungsschemata existieren konnte und uberhaupt durfte. Quallunaat bauten sich Welten au?erhalb der Welt. Sie schlossen die naturlichen Ablaufe zugunsten kunstlicher aus, und alles, was nicht in ihr Konzept passte, wurde ignoriert oder ausgemerzt.
Anawak dachte an das Chateau und an die Aufgaben, die sie dort zu losen versuchten. Er dachte an Jack Vanderbilt. Wie zwanghaft der Stellvertretende CIA-Direktor an der Vorstellung festhielt, die Geschehnisse der letzten Monate lie?en sich auf menschliches Planen und Handeln zuruckfuhren. Wer die Inuit verstehen wollte, musste lernen, sich von der Kontrollpsychose zu losen, die den zivilisierten Gesellschaften eigen war.
Aber wenigstens hatte man es noch mit Menschen zu tun. Die unbekannte Macht hingegen hatte nichts Menschliches. Mittlerweile war Anawak der festen Uberzeugung, dass Johanson Recht hatte. Dieser Krieg drohte an menschliche Ordnungs— und Wertvorstellungen verloren zu gehen. Leute wie Vanderbilt wurden ihn schon darum verlieren, weil sie au?erstande waren, Mentalitaten zu begreifen. Moglicherweise war dem CIA-Mann dieses Manko sogar bewusst, aber er wurde nicht uber den Schatten springen konnen, den ein aufrechter amerikanischer Burger warf, geschweige denn den Weg der Verstandigung mit einer nichtmenschlichen Spezies beschreiten.
Ein Delphin war schon nicht zu begreifen. Wie dann eine Rasse, die Johanson in dadaistischer Einsicht die Yrr genannt hatte?
Plotzlich wurde Anawak bewusst, dass sie die Aufgabe nicht wurden losen konnen, solange sie nicht das richtige Team beisammen hatten.
Jemand fehlte. Und er wusste auch, wer.
Wahrend Akesuk Vorbereitungen fur den Aufbruch traf, bemuhte sich Anawak in der Polar Lodge um eine Verbindung ins Chateau. Nach einigen Minuten schaltete man ihn auf einen abhorsicheren Kanal und leitete ihn mehrfach um. Li war nicht im Hotel, sondern befand sich an Bord eines Navy-Kreuzers vor Seattle. Er musste geschlagene funfzehn Minuten warten, bis er sie endlich in der Leitung hatte.
Er fragte, ob sie weitere drei bis vier Tage auf ihn verzichten konne. Sie raumte ihm die Frist ein, nachdem er vorgeschoben hatte, sich um seine Angehorigen kummern zu mussen. Dabei nagte das schlechte Gewissen an ihm, aber er sagte sich, dass die Rettung der Welt unmoglich davon abhangen konnte, ob er die nachsten drei Tage zur Verfugung stand oder nicht. Im Ubrigen stand er ja zur Verfugung. Sein Kopf arbeitete auch im hohen Norden.
Li erklarte ihm, sie gingen mit Sonarattacken gegen die Wale vor. »Ich wei?, dass Sie das nicht gerne horen«, sagte sie.
»Und, funktioniert es?«, fragte er.
»Wir stehen kurz vor der Einstellung der Experimente. Sie zeigen nicht die gewunschte Wirkung. Aber wir mussen alles versuchen. Solange wir uns die Tiere vom Leibe halten, haben wir bessere Chancen, Taucher und Equipment nach unten zu schicken.«
»Sie wollen die Chancen vergro?ern? Dann erweitern Sie das Team.«
»Um wen?«
»Um drei Leute.« Er machte eine Pause, dann entschloss er sich, offensiv zu werden. »Ich will, dass sie rekrutiert werden. Wir brauchen mehr Mitarbeiter, die sich mit Verhaltensforschung und Intelligenz beschaftigen. Und ich brauche jemanden, der mir assistiert und dem ich vertrauen kann. Ich will, dass Alicia Delaware mit ins Boot geholt wird. Sie wohnt den Sommer uber in Tofino. Eine Studentin, die sich mit Intelligenzforschung beschaftigt.«
»In Ordnung«, sagte Li uberraschend schnell. »Zweitens?«
»Ein Mann aus Ucluelet. Wenn Sie Einsicht in die Akten der MK-Programme nehmen, werden Sie ihn unter Jack O’Bannon finden. Er kann mit Meeressaugern umgehen. Und er wei? einiges, was uns von Nutzen sein konnte.«
»Ist er Akademiker?«
»Nein. Ex-Ausbilder der US-Army. Marine Mammal System.«
»Verstehe«, sagte Li. »Das werden wir besprechen mussen. Wir haben selber eine Reihe Experten auf diesem Gebiet. Warum wollen Sie ausgerechnet ihn?«
»Ich will ihn einfach.«
»Und die dritte Person?«
»Sie ist die wichtigste von allen. Wir haben es hier gewisserma?en mit Aliens zu tun. Sie werden jemanden brauchen, der sich ausschlie?lich Gedanken daruber macht, wie man mit Wesen kommunizieren kann, die keine Menschen sind. Nehmen Sie Kontakt zu Dr. Samantha Crowe auf. Sie leitet das SETI-Projekt in Arecibo.«
Li lachte leise.
»Sie sind ein kluger Bursche, Leon. Wir hatten ohnehin vor, jemanden von SETI mit hinzuzuziehen. Kennen Sie Dr. Crowe?«
»Ja. Sie ist in Ordnung.«
»Gut.«
»Werden Sie meine Wunsche berucksichtigen?«
»Ich sehe, was sich tun lasst.« Jemand rief im Hintergrund Lis Namen. »Machen Sie’s gut, Leon. Kommen Sie heil zu uns zuruck. Ich muss wieder an die Front.«
Die Turbo-Prop Hawker Siddeley flog nicht auf direktem Wege in den Norden, sondern erst ein Stuck ostwarts. Akesuk hatte den Piloten zu dem kleinen Umweg uberredet, damit Anawak die Great Plain of Koukdjuak bewundern konnte, ein Wildschutzgebiet voller kreisrunder Wassertumpel, in dem die gro?te Gansekolonie der Welt zu Hause war. Weitere Passagiere aus Cape Dorset und Iqaluit sa?en in der Maschine, die alle nach Pond Inlet aufs Land wollten. Die meisten kannten die Aussicht und dosten vor sich hin.
Anawak hingegen konnte sich nicht satt sehen.
Ihm war, als erwache er aus einem jahrelangen Schlaf.
Sie flogen ein Stuck die Kuste entlang und kreuzten den nordlichen Polarkreis. Geographisch begann hier die Arktis. Unter ihnen lag die eisige Mondlandschaft des Foxe-Beckens mit ihren gro?en und kleinen Eisaufbruchen, unterbrochen von Flachen freien Wassers. Nach kurzer Strecke hatten sie wieder Land unter sich, zerkluftet und mit schroffen Berghangen und senkrechten Steinpalisaden. Schnee glitzerte am Grund tiefer, schattiger Schluchten. In gefrorene Seen ergossen sich Rinnsale von Schmelzwasser. Die Landschaft im Licht der tiefer sinkenden Sonne gewann zunehmend an Gro?artigkeit. Schartige, braune Berge wechselten mit verschneiten Talern, Gebirgszuge reckten sich ihnen entgegen, fast zur Ganze bedeckt mit Schneeverwehungen. Plotzlich, beinahe ubergangslos, zog der Flieger uber eine blaulich wei? abgesetzte Uferlinie hinweg, und sie blickten auf eine geschlossene Decke aus Meereis, den Eclipse Sound.