Der Schwarm - Schatzing Frank (читать книги TXT) 📗
»Da unten ist mein Zuhause.«
»Gut.«
Die Maschine sackte ab und setzte zur Landung an. Sie drehten mehrere Kurven. Die Lichter der Stadt kamen naher, aber es waren zu wenige fur Vancouver, viel zu wenige. Das war nicht Vancouver. Uberall lag Schnee, Eisschollen trieben auf einer schwarzen See, im Hintergrund erhob sich ein marmoriertes Gebirge.
Sie landeten in Cape Dorset.
Plotzlich war er wieder zu Hause bei seinen Eltern, die beide noch lebten und ein Fest mit ihm feierten. Es war sein Geburtstag. Viele Kinder aus der Nachbarschaft waren gekommen, alle tanzten ausgelassen um ihn herum, und sein Vater schlug vor, einen Wettlauf durch den Schnee zu machen. Er uberreichte Anawak ein riesiges, grob verschnurtes Paket und erklarte ihm, dies sei sein einziges Geschenk und sehr kostbar.
»Darin findest du alles, was du fur dein spateres Leben brauchst«, sagte er. »Aber du musst es mitnehmen, wenn wir drau?en laufen.«
Anawak versuchte, das Riesenpaket mit beiden Armen uber seinem Kopf zu balancieren. Sie gingen nach drau?en, wo der Schnee in der Dunkelheit leuchtete, und eine Stimme flusterte ihm zu, dass ihm keine Wahl bliebe, als das Rennen zu gewinnen, weil die anderen beschlossen hatten, ihn sonst zu toten. Niemand habe sich getraut, es ihm zu verraten, aber unzweifelhaft hatten sie es vor. Bei Nacht wurden sie sich allesamt in Wolfe verwandeln und ihn in Stucke rei?en, wenn er nicht rasch genug unten am Wasser ware, also sollte er besser die Beine in die Hand nehmen.
Anawak begann zu weinen. Er konnte sich nicht vorstellen, warum jemand ihm so etwas antun sollte. Er verwunschte seinen Geburtstag, weil er wusste, dass er bald erwachsen sein wurde, und er wollte nicht erwachsen sein und zerrissen werden. Seine Finger in das Paket gekrallt, begann er zu laufen. Der Schnee war hoch, er versank mit beiden Beinen darin, bis zur Hufte reichte er, sodass Anawak kaum vorankam. Er sah sich nach allen Seiten um, aber niemand lief mit ihm. Er war allein. Nur das Haus seiner Eltern lag ein Stuck hinter ihm, mit verschlossener Tur, verdunkelt. Ein kalter Mond stand daruber, und mit einem Mal herrschte Totenstille.
Anawak blieb stehen.
Er uberlegte, ob er zuruck ins Haus gehen sollte, aber da war offenbar niemand mehr. Unheimlich und absto?end erschien es ihm, ein Ort der Ungewissheit. Keine Menschenseele war zu sehen in der eisigen, mondbeschienenen Nacht, kein Laut erklang. Die Verhei?ung von den hungrigen Wolfen kam ihm in den Sinn, die darauf warteten, ihn bei lebendigem Leib zu fressen. Waren sie in dem Haus? Hatten sie schon ein Gemetzel angerichtet unter den Gasten? Aber nichts lie? darauf schlie?en. Cape Dorset und das Haus schienen auf geheimnisvolle Weise jenseits aller Naturgesetze zu liegen. Es war derselbe Platz, an dem eben noch seine Geburtstagsfeier stattgefunden hatte, aber zu einer anderen Zeit, in ferner Zukunft oder noch fernerer Vergangenheit. — Oder vielleicht stand die Zeit auch still, und er blickte auf ein gefrorenes Universum, in dem kein Leben moglich war.
Seine Angst gewann die Oberhand. Er drehte sich um und begann hinunter zum Wasser zu stapfen. Kein Pier wartete dort wie im echten Cape Dorset, sondern nur eine Eiskante. Das Paket war geschrumpft, er konnte es muhelos mit einer Hand greifen, und jetzt kam er auch viel besser voran, sodass er nach wenigen Schritten die Kante erreicht hatte.
Er sah hinaus.
Mondlicht schimmerte auf schwarzen krauseligen Wellen und treibenden Eisplatten. Der Himmel war voller Sterne. Jemand rief seinen Namen. Die Stimme drang schwach aus einer Schneewehe heruber, und Anawak, hin-und hergerissen zwischen Furcht und Neugier, naherte sich mit zogernden Schritten, bis er sehen konnte, dass es gar keine Wehe war, sondern zwei eng beieinander liegende Korper, von Schnee uberpudert. Es waren seine Eltern. Sie starrten mit leerem Blick zum Himmel und waren entweder tot oder au?erstande, mit ihm zu sprechen oder ihn wahrzunehmen.
Ich bin erwachsen, dachte er. Ich muss dieses Paket auspacken.
Er betrachtete es in seiner Handflache.
Winzig war es geworden. Er begann es auszuwickeln, aber im Innern war nur noch mehr Papier. Nichts kam zum Vorschein. Er rupfte das knitterige Zeug auseinander, zerknullte Schicht um Schicht, warf es weg, bis es kein Packchen mehr gab und keine reglos hingestreckten Eltern, sondern nur noch die Eiskante und das schwarze Wasser.
Ein gewaltiger Buckel teilte die Wellen und verschwand wieder.
Anawak wandte langsam den Kopf. Er erblickte ein kleines, schabiges Haus, mehr eine Wellblechbaracke. Die Tur stand offen.
Sein Zuhause.
Nein, dachte er. Nein! Er begann zu weinen. Irgendetwas war schief gelaufen. Das war unmoglich sein Leben. Nicht sein Platz! So war das alles nicht geplant gewesen!
Er hockte im Schnee und starrte auf die Hutte. Er konnte nicht aufhoren zu weinen. Namenloses Elend erfasste ihn. Sein Schluchzen zerriss ihm fast die Brust, hallte vom Himmel wider, erfullte die ganze Welt mit seiner Klage, eine Welt, in der niemand au?er ihm existierte.
Nein. Nein!
Licht.
Sein Zimmer in der Polar Lodge.
Aufrecht sa? Anawak im Bett. Er zitterte am ganzen Korper. Sein Wecker zeigte 2.30 Uhr. Es dauerte eine Weile, bis er sich so weit beruhigt hatte, dass er aufstehen und den kleinen Kuhlschrank offnen konnte. Seine Zunge klebte am Gaumen. Er sah Wasser, Cola und Bier, griff nach einer Cola, offnete sie und trank mit langen durstigen Schlucken. Die Dose in der Rechten trat er zum Fenster, zog den Vorhang beiseite und sah hinaus.
Das Hotel lag auf einer Anhohe, sodass er den Ortsteil Kinngait und Teile der angrenzenden Viertel uberblicken konnte. Es war klar und wolkenlos wie in seinem Traum, aber statt des unermesslichen Sternenhimmels lag nachtliches Zwielicht auf Cape Dorset und tauchte Hauser, Tundra, Schneeflachen und Meer in unwirkliches Rosagold. Es wurde nicht dunkel um diese Zeit, nur die Konturen erschienen weicher und die Farben sanfter.
Mit einem Mal wurde Anawak klar, wie schon es hier war. Er schaute verzaubert auf diesen unglaublichen Himmel, lie? seinen Blick uber die Berge schweifen und uber die Bucht. Das Eis der Tellik Bay schimmerte wie ausgegossenes Silber. Schwarz und bucklig lag Mallikjuaq vor der Kuste wie ein schlafender Wal.
Er sah weiter hinaus und trank von Zeit zu Zeit einen Schluck aus seiner Dose.
Was sollte er tun?
Er erinnerte sich seiner Gefuhle vor wenigen Tagen, als er mit Shoemaker und Delaware zusammengesessen hatte. Wie fremd ihm plotzlich die Station geworden war, Tofino, alles. Wie uberall ein Zimmer zu fehlen schien, um sich vor der Welt zuruckzuziehen. Etwas Bedeutungsvolles hatte sich angekundigt, davon war er uberzeugt gewesen. Voller Hochgefuhl und Furcht hatte er darauf gewartet, als solle die Verhei?ung uber ihn kommen.
Stattdessen war sein Vater gestorben.
War es das? Dieses Ereignis von Bedeutung? Dass er in die Arktis hatte zuruckkehren mussen, um seinen Vater zu beerdigen?
Sicher, er stand vor gro?eren Herausforderungen. Vor einer der gro?ten, denen sich die Menschheit je ausgesetzt gesehen hatte. Er und einige wenige. Das war an Bedeutsamkeit kaum noch zu uberbieten. Aber es hatte nichts mit seinem Leben zu tun. Sein Leben vollzog sich in einem anderen Gefuge. Tsunamis, Methankatastrophen und Seuchen spielten darin keine Rolle. Sein Leben hatte sich mit einer Todesbotschaft in den Vordergrund gedrangt. Und erstmals, seit sie ihn erreicht hatte, begann Anawak zu ahnen, dass sich ihm hier in Nunavut die Chance bot, Tod in neues Leben umzuwandeln. Er selber war tot gewesen. Er musste neu geboren werden.
Nach einer Weile zog er sich an, streifte seine gefutterte Mutze uber beide Ohren und ging hinaus in die erleuchtete Nacht. Niemand au?er ihm war unterwegs. Eine gute Stunde lief er durch den Ort, bis er neue Mudigkeit kommen fuhlte, weit schwerer und freundlicher als die Betaubung durch den laufenden Fernseher. Er kehrte zuruck in die warme Lodge, warf seine Kleidung achtlos auf den Boden, rollte sich im Bett zusammen und war eingeschlafen, kaum dass sein Kopf das Kissen beruhrte.