Der Schwarm - Schatzing Frank (читать книги TXT) 📗
Nein, dachte er. Oh mein Gott, bitte nicht.
Der Pickup rollte quer uber die Stra?e und weiter nach hinten, wahrend die Harley darauf zurutschte. Hooper horte Linda schreien und riss den Lenker herum. Um Haaresbreite schlitterten sie an der chromverzierten Kuhlerhaube vorbei. Die Harley drehte sich. Nach wenigen Sekunden gelang es Hooper, das Motorrad zu stabilisieren. Menschen sprangen aus dem Weg. Er beachtete sie nicht. Die Stra?e vor ihnen war frei.
Mit Hochstgeschwindigkeit flohen sie weiter nach Southampton.
»Was um alles in der Welt ist das blo??«
Codys Finger rasten uber die Tastatur. Er legte nacheinander verschiedene Filter uber die Bilder, aber es war und blieb eine helle Masse, die mit gro?er Geschwindigkeit vom Meer landeinwarts strebte.
»Sieht aus wie Brandung«, sagte er. »Wie eine Riesenschei?welle.«
»Wir haben keine Welle gesehen«, sagte Mike. »Da war keine Welle. Es mussen Tiere sein.«
»Was denn fur Schei?tiere, Mann?«
»Es sind …« Mike starrte auf die Bilder. Er zeigte auf eine Stelle. »Da. Das da. Hol mir das naher ran. Mach mir einen Ausschnitt von einem Quadratmeter.«
Cody schnitt die Stelle aus und vergro?erte sie. Das Resultat war eine Flache heller und dunkler Quadrate. Mike kniff die Augen zusammen.
»Noch naher.«
Die Pixelquadrate wurden gro?er. Einige waren wei?, andere in Grautonen abgestuft.
»Erklar mich fur verruckt«, sagte Mike langsam. »Aber es konnten …« War das moglich? Aber was sonst sollte es sein? Was sonst kam aus dem Meer und bewegte sich so schnell? »Scheren«, sagte er. »Es konnten Panzer mit Scheren sein.«
Cody starrte ihn an. »Scheren?«
»Krebse.«
Cody offnete den Mund. Dann befahl er dem Satelliten, den weiteren Kustenverlauf abzusuchen.
Der KH-12-4 arbeitete sich von Montauk nach East Hampton hoch, dann weiter nach Southampton bis Mastic Beach und Patchogue. Mit jedem neuen Bild, das die Sonde schoss, wurde Mike unheimlicher.
»Das ist ja wohl nicht wahr«, sagte er.
»Nicht wahr?« Cody sah ihn an. »Es ist schei?wahr! Irgendwas kommt da unten aus dem Meer. Auf der gesamten Kustenlange von Long Island kommt irgendetwas aus dem Schei?meer. Willst du jetzt immer noch gerne in Montauk sein?«
Mike fuhr sich uber die Augen.
Er griff nach dem Telefonhorer, um die Zentrale anzurufen.
Kurz hinter Montauk ging die Landstra?e 27 in den Long Island Expressway 495 uber. Er fuhrte auf direktem Wege nach Queens. Von Montauk bis New York waren es rund zweihundert Kilometer, und je naher man der Metropole kam, desto belebter wurde es. Auf halber Strecke hinter Patchogue nahm der Verkehr stark zu.
Bo Henson fuhr fur seinen eigenen privaten Kurierdienst. Er legte die Long-Island-Strecke zweimal am Tag zuruck. In Patchogue hatte er einige Pakete vom dortigen Flughafen abgeholt und im Umkreis abgeliefert. Jetzt war er auf dem Weg zuruck in die Stadt. Es war spat geworden, aber um Unternehmen wie FedEx Konkurrenz zu machen, durfte man nicht zimperlich sein, was Arbeitszeiten anging. Fur heute sah Henson dem Ende entgegen. Alles war erledigt, sogar fruher als gedacht. Er war mude und freute sich auf ein Bier.
In der Hohe von Amityville, rund 40 Kilometer vor Queens, geriet vor ihm ein Wagen ins Schleudern.
Henson bremste scharf ab. Der Wagen fing sich wieder, fuhr langsamer und schaltete die Warnblinkanlage ein. Etwas bedeckte die Stra?e auf gro?er Flache. Im ersten Moment konnte Henson im Dammerlicht nicht erkennen, was es war, nur dass es sich bewegte und von links aus den Buschen kam. Dann sah er, dass der Highway von Krebsen uberrannt wurde. Von kleinen, schneewei?en Krebsen. Dicht an dicht versuchten sie, die Stra?e zu uberqueren, aber es war ein aussichtsloses Unterfangen. Matschige Spuren und zersplitterte Panzer zeigten an, wie viele von ihnen den Versuch bereits mit ihrem Leben bezahlt hatten.
Der Verkehr schlich dahin. Das Zeug war wie Seife. Henson fluchte. Er fragte sich, wo die Viecher plotzlich herkamen. In einer Zeitschrift hatte er gelesen, dass die Landkrebse auf Christmas Island einmal im Jahr zur Fortpflanzung aus den Bergen zum Meer marschierten. An die 100 Millionen Krabben waren dann unterwegs. Aber Christmas Island lag im Indischen Ozean, und auf den Bildern waren gro?e, knallrote Tiere abgebildet gewesen, nicht so ein wei?es Gewimmel wie hier.
Etwas Derartiges hatte Henson noch nie gesehen.
Immer noch fluchend schaltete er das Radio ein. Nach einigem Suchen fand er einen Countrysender, lehnte sich zuruck und ergab sich in sein Schicksal. Dolly Parton tat ihr Bestes, um ihn mit der Situation zu versohnen, aber Hensons Laune war ruiniert. Es dauerte zehn Minuten, dann kamen Nachrichten, doch die Krabbeninvasion wurde mit keinem Wort erwahnt. Dafur bahnte sich plotzlich ein Schneepflug seinen Weg zwischen den dahinzuckelnden Autos und versuchte, das krabbelnde Zeug von der Stra?e zu entfernen. Der Effekt war eine vollige Blockade. Eine Zeit lang bewegte sich uberhaupt nichts mehr. Henson schaltete zwischen allen moglichen lokalen Sendern hin und her, ohne dass jemand eine entsprechende Meldung brachte, und das machte ihn fuchsteufelswild, weil er sich in seiner Misere auch noch ignoriert fuhlte. Die Klimaanlage blies einen ungesunden Geruch ins Innere, sodass er sie schlie?lich ausschaltete.
Hinter der Kreuzung, die links nach Hempstead und rechts nach Long Beach fuhrte, ging es dann endlich wieder zugiger voran. Offenbar waren die Tiere bis hierher nicht gekommen. Henson trat aufs Gas und erreichte Queens uber eine Stunde spater, als er gehofft hatte. Er war stocksauer. Kurz vor dem East River bog er links ab und uberquerte den Newton Creek, um zu seiner Stammkneipe in Brooklyn-Greenpoint zu fahren. Er stellte den Transporter ab, stieg aus und bekam fast einen Schlag, als er den Zustand seines Fahrzeugs sah. Reifen, Radkasten und die Seiten bis hinauf zu den Fenstern waren mit Krabbenmatsch verschmiert. Ein schrecklicher Anblick, und er musste am kommenden Morgen fruh wieder auf der Stra?e sein. So konnte er unmoglich ausliefern.
Spat war es ohnehin. Henson zuckte die Achseln. Jetzt konnte das Bier auch noch so lange warten, bis er den Transporter im nahe gelegenen 24-Hours-Carwash abgegeben hatte. Er stieg wieder ein, fuhr drei Stra?en weiter zur Waschanlage und scharfte dem Personal ein, die Felgen gesondert abzuspritzen, um auch ja den letzten Rest der Schweinerei zu entfernen. Dann sagte er ihnen, wo sie ihn finden konnten, und ging zu Fu? in seine Kneipe, um endlich sein Bier zu trinken.
Der 24-Stunden-Service war dafur bekannt, seine Arbeit gewissenhaft und grundlich zu verrichten. Der schmierige Belag auf Hensons Transporter erwies sich als hartnackig, aber nachdem er langere Zeit dem hei?en Hochdruckdampfstrahl ausgesetzt war, floss er schlie?lich ab. Der Junge, der den Dampfstrahler hielt, hatte den Eindruck, dass die Brocken regelrecht dahinschmolzen. Wie Gotterspeise in der Sonne, dachte er.
Alles strebte den Abflussen zu.
New York verfugte uber ein einzigartiges Kanalisationssystem. Wahrend Stra?en— und Zugtunnel den East River in rund 30 Metern Tiefe unterquerten, reichten die Rohrsysteme fur Abwasser und Trinkwasser bis in Tiefen von 240 Metern. Immer neue Kanale trieben die Tunnelbauer mit Hilfe gewaltiger Bohrkopfe durch den Untergrund, damit die Wasserver— und -entsorgung der Riesenstadt nicht ins Stocken geriet. Neben den intakten Rohrleitungssystemen gab es zudem eine Reihe alter Tunnel, die nicht mehr in Betrieb waren. Experten behaupteten, dass mittlerweile niemand mehr zu sagen vermochte, wo im New Yorker Untergrund uberall Kanale verlegt waren. Es gab keine Karte, die das gesamte Netz abbildete. Manche der Tunnel waren nur bestimmten Gruppen von Obdachlosen bekannt, die ihr Geheimnis fur sich behielten. Andere hatten Filmemacher zu Monster Movies inspiriert, in denen sie als Brutstatte allerlei monstroser Kreaturen dienten. Fest stand, dass in der New Yorker Kanalisation alles, was hineingeleitet wurde, in gewisser Weise verloren ging.