Der Schwarm - Schatzing Frank (читать книги TXT) 📗
»Augenblick. Da!«
Vor ihnen verschwand der Lichtkegel in einem Schatten. Im Naherkommen erkannten sie, dass der Boden hier steil absturzte. Das Licht verlor sich im Abgrund.
»Halten Sie an.«
Eddies Finger flogen uber Tasten und Knopfe. Er erzeugte Gegenschub, und das Deep Rover verharrte. Dann begann es sich allmahlich zu drehen.
»Ziemlich starke Stromung«, sagte Eddie. Das Tauchboot drehte sich langsam weiter, bis die Scheinwerfer den Rand des Abgrundes beleuchteten. Sie starrten auf eine Bruchkante.
»Sieht ganz so aus, als ware hier vor kurzem was abgesturzt«, sagte Eddie. »Ziemlich frisch.«
Stones Augen wanderten nervos umher.
»Was sagt das Sonar?«
»Es geht mindestens vierzig Meter tief runter. Und rechts und links kann ich gar nichts ausmachen.«
»Das hei?t, das Plateau …«
»Hier ist kein Plateau mehr. Es ist eingebrochen.«
Stone nagte an seiner Unterlippe. Sie mussten in unmittelbarer Nahe der Fabrik sein. Aber hier war kein Abgrund gewesen vor einem Jahr. Wahrscheinlich nicht einmal vor wenigen Tagen.
»Wir gehen tiefer«, entschied er. »Schauen wir mal, wo das hinfuhrt.«
Das Deep Rover nahm Fahrt auf und sank entlang der Bruchkante abwarts. Nach knapp zwei Minuten beleuchteten die Scheinwerfer wieder Grund. Es sah aus wie auf einem Trummerfeld.
»Wir sollten ein paar Meter steigen«, sagte Eddie. »Hier unten ist es ziemlich zerkluftet. Wir konnten irgendwo reinrasseln.«
»Ja, gleich. — Verdammt, vor uns! Schauen Sie.« Eine meterdicke, aufgerissene Rohre kam ins Blickfeld. Sie wand sich quer uber gro?e Gesteinsbrocken und verschwand jenseits des Lichtkegels. Mehrere dunne, schwarze Olfaden zogen sich daraus hervor und stiegen senkrecht zur Oberflache. »Das ist eine Pipeline«, rief Stone aufgeregt. »Mein Gott.«
»Das war eine Pipeline«, sagte Eddie.
»Wir folgen ihrem Verlauf.«
Stone frostelte. Er wusste, wohin diese Pipeline fuhrte, beziehungsweise, woher sie kam. Sie waren auf dem Gelande der Fabrik.
Aber es gab kein Gelande mehr.
Vor ihnen tauchte jah eine zerkluftete Wand auf. Eddie zog das Tauchboot in letzter Sekunde hoch. Die Wand schien kein Ende zu nehmen, dann flogen sie mit knapper Not uber die Kante hinweg. Erst jetzt sah Stone, dass es gar keine Wand war, sondern ein gewaltiges Stuck Meeresboden, das sich senkrecht aufgestellt hatte. Dahinter ging es wieder steil abwarts. Im Licht trieben Sedimentpartikel und erschwerten die Sicht. Dann erfassten die Leuchten wieder einen Strom schnell aufsteigender Blasen. Sie schossen wild aus einem Graben mit kantigen Randern hervor.
»Du lieber Himmel«, flusterte Stone. »Was ist denn hier passiert?«
Eddie gab keine Antwort. Er flog eine Kurve, sodass sie an dem Blasenstrom vorbeizogen. Die Sicht wurde immer schlechter. Sie verloren die Pipeline kurz aus den Augen, dann schob sie sich wieder in den Scheinwerferkegel. Sie fuhrte abwarts.
»Schei?stromung«, sagte Eddie. »Wir werden in den Blowout gezogen.«
Das Deep Rover begann zu trudeln.
»Weiter der Pipeline nach«, befahl Stone.
»Das ist Wahnsinn. Wir sollten auftauchen.«
»Die Fabrik ist hier«, beharrte Stone. »Sie musste gleich vor uns auftauchen.«
»Hier wird uberhaupt nichts auftauchen. Hier ist alles kaputt.«
Stone sagte nichts. Vor ihnen bog sich die Pipeline wie von einer Riesenfaust verdreht nach oben und endete in einem ausgerissenen Stumpf. Zerfetzter Stahl wand sich zu bizarren Skulpturen.
»Wollen Sie immer noch weiter?«
Stone nickte. Eddie manovrierte bis dicht an das Rohr. Einen Moment lang schwebten sie uber der gezackten Offnung wie uber einem riesigen Maul. Dann zog das Tauchboot an der Pipeline vorbei.
»Hier geht es ins Bodenlose«, sagte Eddie.
Um sie herum begann es wieder zu perlen.
Stone ballte die Fauste. Ihm dammerte, dass Alban am Ende Recht behalten wurde. Sie hatten einen Roboter hinunterschicken sollen. Aber jetzt aufzugeben erschien ihm umso absurder. Er musste es wissen! Er wurde Skaugen nicht unter die Augen treten ohne einen detaillierten Bericht. Diesmal wurde er sich nicht kalt erwischen lassen.
»Weiter, Eddie.«
»Sie sind irre.«
Hinter dem abgerissenen Rohr fiel das Trummerfeld steil ab, und der Sedimentregen nahm zu. Erstmals machte sich jetzt auch bei Eddie eine gewisse Anspannung bemerkbar. Jeden Moment konnten neue Hindernisse vor ihnen auftauchen.
Dann sahen sie die Fabrik.
Genau genommen sahen sie nur einige Querverstrebungen, aber Stone wusste im selben Moment, dass es den Kongsberg-Prototyp nicht mehr gab. Die Fabrik lag unter dem Schutt des zusammengebrochenen Plateaus, uber funfzig Meter tiefer, als sie gestanden hatte.
Er schaute genauer hin. Etwas loste sich aus den Metallstreben und kam zu ihnen herauf.
Blasen.
Nein, mehr als nur Blasen. Es erinnerte Stone an den kolossalen Gaswirbel, den sie an Bord der Sonne beobachtet hatten. An den Blowout, nachdem der Videogreifer eingebrochen war.
Plotzlich erfasste ihn Panik.
»Weg!«, schrie er.
Eddie klinkte die restlichen Gewichte aus. Das Boot tat einen Satz und schoss in die Hohe, gefolgt von der riesigen Blase. Dann waren sie mitten in dem Wirbel und sackten weg. Um sie herum kochte das Meer.
»Schei?e!«, brullte Eddie.
»Was ist los bei euch da unten?« Die blecherne Stimme des Technikers an Bord der Thorvaldson. »Eddie? Melde dich! Wir messen hier komische Sachen, es steigt jede Menge Gas und Hydrat nach oben.«
Eddie druckte die Antworttaste.
»Ich werfe die Hulle ab! Wir kommen hoch.«
»Was ist los? Habt ihr …«
Die Stimme des Technikers ging unter in drohnendem Larm. Es zischte und knallte. Eddie hatte die Batteriepakete und Teile der Hulle abgesprengt. Es war die ultimative Notfallma?nahme, um schnell Gewicht zu verlieren. Der Restrumpf des Deep Rover mit der Acrylkugel begann sich zu drehen und wieder aufzusteigen. Dann erschutterte ein heftiger Sto? das Gefahrt. Stone sah einen gewaltigen Felsbrocken neben sich auftauchen, der vom Gas mit hochgerissen wurde. In der Kugel kehrte sich das Unterste zuoberst. Er horte den Piloten schreien, als sie ein weiteres Mal getroffen wurden. Diesmal bekamen sie einen Schlag von rechts, der sie seitlich aus dem Blowout heraustrug. Augenblicklich erhielt das Deep Rover Auftrieb und schoss nach oben. Stone klammerte sich an den Lehnen fest, mehr liegend als sitzend. Eddie sackte mit geschlossenen Augen gegen ihn. Blut lief uber sein Gesicht. Entsetzt registrierte Stone, dass er nun vollig auf sich gestellt war. Fieberhaft versuchte er sich zu erinnern, wie man das Boot wieder ins Gleichgewicht brachte. Die Steuerung lie? sich von Eddie zu ihm heruberschalten, aber wie?
Eddie hatte es ihm gezeigt. Da war der Knopf.
Stone druckte ihn, wahrend er zugleich versuchte, Eddie von sich wegzuschieben. Er war nicht sicher, ob die Propeller uberhaupt noch funktionierten, nachdem die Hulle abgesprengt war. Auf dem Tiefenmesser jagten die Zahlen einander und zeigten ihm an, dass das Boot jetzt sehr schnell stieg. Im Grunde war es belanglos, wohin er steuerte. Hauptsache, es ging nach oben. Dekompressionsprobleme musste man im Deep Rover nicht befurchten. Der Kabinendruck entsprach dem Druck an der Wasseroberflache.
Ein Warnlicht leuchtete auf.
Die Scheinwerfer uber der rechten Kufe erloschen. Dann gingen samtliche Lichter aus. Tintenschwarze herrschte um Stone herum.
Er begann zu zittern.
Beruhige dich, dachte er. Eddie hat dir die Funktionen erklart. Es gibt ein Notstromaggregat. Es ist einer der Knopfe in der obersten Reihe des Bedienpults. Entweder es schaltete sich von selber ein, oder er musste es tun. Seine Finger ertasteten die Schalter, wahrend er weiter in die Schwarze starrte.
Was war da?
Es hatte stockfinster sein mussen ohne die Leuchten des Tauchboots. Aber da war Licht.