Justiz - Дюрренматт Фридрих (книги без сокращений txt) 📗
«Gestatten, Fräulein Kohler«, sagte ich,»ich möchte Sie einen Augenblick sprechen. Allein.»
Stüssi-Leupin bot ihr eine Zigarette an, steckte sich auch eine in den Mund, gab Feuer.
«Ist es dir recht, Hélène?«fragte er sie. Ich hätte den Staradvokaten niederschlagen können.
«Nein«, antwortete sie, ohne mich anzusehen, nur daß sie die Zigarette niederlegte.»Aber er mag reden.»
«Gut«, sagte ich, zog einen Stuhl herbei, bestellte einen Espresso.
«Was wollen Sie nun, mein verehrtes Justizgenie?«fragte Stüssi-Leupin gemütlich.
«Fräulein Kohler«, sagte ich, kaum daß ich meine Aufregung verbergen konnte,»ich habe Ihnen eine Frage zu stellen.»
«Bitte. «Sie rauchte wieder.
«Stellen Sie«, meinte Stüssi-Leupin.
«Als Ihr Vater den englischen Minister zum Flugzeug gebracht hat, sind Sie damals noch Stewardeß gewesen?»
«Gewiß.»
«Auch in der Maschine, die den Minister nach England zurückgeflogen hat?»
Sie drückte ihre Zigarette aus.
«Möglich«, sagte sie.
«Danke, Fräulein Kohler«, sagte ich und erhob mich, grüßte, ließ den Espresso stehen und ging. Ich wußte nun, wie die Waffe verschwinden konnte. Es war alles so einfach. Zum Lachen. Der Alte hatte sie dem Minister in die Manteltasche geschoben, als er neben ihm im Rolls-Royce saß, und seine Tochter Hélène hatte den Revolver im Flugzeug aus der Manteltasche geholt. Das konnte sie ja leicht als Stewardeß. Aber wie ich es nun wußte, wurde ich leer und müde, bummelte den Quai entlang, endlos, den blödsinnigen See mit seinen Schwänen und Segelbooten zur Rechten. Stimmte meine Überlegung — und sie mußte stimmen —, war Hélène Mitwisserin. Schuldig wie ihr Vater. Dann hatte sie mich im Stich gelassen, dann mußte sie wissen, daß ich recht hatte, dann hatte ihr Vater schon gewonnen. Er war stärker gewesen als ich. Ein Kampf mit Hélène war sinnlos, weil sie sich schon entschieden hatte, weil er schon entschieden war. Ich konnte sie nicht zwingen, ihren Vater zu verraten. Woran sollte ich denn bei ihr appellieren? An die Ideale? An welche? An die Wahrheit? Die hatte sie verschwiegen. An die Liebe? Sie hatte mich verraten. An die Gerechtigkeit? Dann würde sie mich fragen: Für wen? Für eine lokale Geistesgröße? Asche ist zufrieden. Für einen windelweichen, verlogenen Schürzenjäger? Der ist auch kremiert. Für mich? Nicht der Mühe wert. Die Gerechtigkeit ist keine Privatsache. Und dann würde sie mich fragen: Wozu Gerechtigkeit? Für unsere Gesellschaft? Nur ein Skandal mehr, nur Redestoff, übermorgen längst eine andere Tagesordnung. Resultat der Denkübung: Der Nutzwert der Gerechtigkeit wog für Hélène ihren Papa nicht auf. Für einen Juristen eine lähmende Erleuchtung. Sollte ich noch den Lieben Gott ins Spiel bringen? Ein sicher sehr freundlicher, doch ziemlich unbekannter Herr mit ungesicherter Existenz. Und dann: Was hat der Mann alles zu tun! (Durchmesser des Universums nach de Sitter — veraltet, viel zu bescheiden gerechnet — in Zentimetern: eine Eins mit achtundzwanzig Nullen.) Aber es galt durchzuhalten, sich aufzurappeln, die Philosophie hinunterzuwürgen, den Kampf gegen die Gesellschaft, gegen Kohler, gegen Stüssi-Leupin weiterzuführen und den gegen Hélène aufzunehmen. Denken ist ein nihilistischer Zug, stellt die Werte in Frage, und so wandte ich mich denn wieder rüstig dem tätigen Leben zu, wanderte erfrischt nach der Innenstadt zurück, See, Schwäne und Segelschiffe nun zur Linken, an Liebespaaren und Rentnern vorbei, aufs angenehmste durch einen Sonnenuntergang kosmisch beleuchtet, trank dann den ganzen Abend durch Klävner (den ich gar nicht vertrage), und als ich gegen ein Uhr mit einer zwar berüchtigten, dafür aber kühngewachsenen Dame in ihrem Appartementhaus verschwand, stand dort im Eingang Stuber von der Sittenpolizei, notierte Adressen, verbeugte sich höflich, die Geste sollte wohl ironisch wirken, Kohlen aufs Haupt eines verlotterten Rechtsanwalts. Das war Pech. Möglich. (Dafür war die Dame anständig, ihr war's eine Ehre, sagte, ich könne das nächste Mal zahlen, was ich bezweifelte, ich beichtete ihr, auch das nächste Mal sei ich dazu kaum imstande, gestand meinen Beruf, worauf sie mich engagierte.)
Land und Leute: Einige Bemerkungen sind unumgänglich. Zu einem Mord gehören auch nähere und weitere Umgebung, die mittlere Jahrestemperatur, die durchschnittliche Häufigkeit von Erdbeben und menschliches Klima. Alles ist miteinander verflochten: Gegründet wurde das Unternehmen, welches sich bald unser Staat, bald unser Vaterland nennt, vor etwas mehr als zwanzig Generationen, grob gerechnet. Ort: Zuerst spielte sich alles der Hauptsache nach im Kalk, Granit und in der Molasse ab, später kam Tertiäres hinzu. Klima: leidlich. Zeit: Zuerst mittelmäßig, die habsburgische Hausmacht braute sich zusammen, viel Faustrecht, es galt sich durchzuprügeln, und man prügelte sich durch, knackte Ritter, Klöster und Burgen wie Panzerschränke, gewaltige Plünderungen, Beute, Gefangene wurden keine gemacht, vor den Schlachten Gebet und nach dem Gemetzel Orgien, enorme Saufereien, der Krieg rentierte, dann aber leider die Erfindung des Pulvers, die Großmachtpolitik stieß auf steigenden Widerstand, dem Dreschen mit Hellebarde und Morgenstern wurden Grenzen gesetzt, die Nahkämpfer wurden aus der Ferne zusammengetätscht, nach kaum acht Generationen schon der berühmte Rückzug, von da noch weitere sieben Generationen relative Wildheit, teils mordete man sich nun untereinander, unterjochte Bauern (mit der Freiheit nahm man es nie so genau) und schlug sich um die Religion, teils betrieb man Söldnerei im großen Stil, gab sein Blut für den Meistbietenden, beschützte die Fürsten vor den Bürgern, ganz Europa vor der Freiheit. Dann endlich gewitterte die Französische Revolution herauf, in Paris wurde die verhaßte Garde zusammengeschossen, tapfer stand sie auf verlorenem Posten, im Dienste eines verrotteten Systems von Gottes Gnaden, während einer ihrer aristokratischen Offiziere in einer Dachkammer und in Sicherheit dichtete: >Bunt sind schon die Wälder, gelb die Stoppelfelder, und der Herbst beginnt<. Wenig später räumte Napoleon mit dem ganzen Plunder von gnädigen Herren und Untertanenländern endgültig auf: dem Land taten die Niederlagen gut. Ansätze zur Demokratie zeigten sich und neue Ideen: Pestalozzi, arm, schäbig und glühend, zog im Lande herum, von einem Unglück ins andere. Eine radikale Wende zu Geschäft und Gewerbe setzte ein, drapiert mit den entsprechenden Idealen. Die Industrie begann sich breitzumachen, Eisenbahnen wurden gebaut. Zwar war der Boden arm an Schätzen, Kohle und Erze mußten eingeführt und verarbeitet werden, aber emsiger Fleiß überall, steigender Reichtum, doch ohne Verschwendung, leider auch ohne Glanz. Sparsamkeit installierte sich als höchste Tugend, Banken wurden gegründet, zuerst zaghaft, Schulden galten als unehrenhaft, stellten einst die Landsknechte einen Ausfuhrartikel dar, jetzt die Bankrotteure: wer bei uns pleite ging, hatte jenseits der Ozeane eine Chance. Alles mußte rentieren und rentierte: sogar die unermeßlichen Steinhaufen und Geröllhalden, die Gletscherzungen und Steilhänge, denn seit die Natur entdeckt worden war und sich jeder Trottel in der Bergeinsamkeit erhaben fühlen durfte, wurde auch die Fremdenindustrie möglich: die Ideale des Landes waren immer praktisch. Im übrigen lebte man entschlossen so, daß es jedem möglichen Feind nützlicher war, einen in Ruhe zu lassen, eine an sich unmoralische, doch gesunde Lebenshaltung, die von keiner Größe, aber von beträchtlichem politischem Verstand zeugte. Man mauserte sich denn auch durch zwei Weltkriege, manövrierte zwischen Bestien, kam immer wieder davon. Unsere Generation erschien.
Gegenwart (1957 n. Chr.): Große Teile der Bevölkerung leben beinahe sorglos dahin, gesichert und versichert, Kirche, Bildung und Spitäler stehen zu gemäßigten Preisen zur Verfügung, die Kremierung erfolgt im Notfall kostenlos. Das Leben gleitet auf festen Gleisen, aber die Vergangenheit rüttelt am Bau, erschüttert die Fundamente. Wer viel hat, fürchtet, viel zu verlieren. Man sinkt nach bestandener Gefahr vom Pferd wie der Reiter nach seinem Ritt über den Bodensee: man ist zu zaghaft, die eigene Klugheit als notwendig zu begreifen, man hält es nicht mehr aus, zwar kein Held, aber vernünftig gewesen zu sein, man reiht sich in die Reihen der Sieger ein, die Sage der kriegerischen Väter kommt hoch, von den Mythen her droht Kurzschlußgefahr, man träumt von den alturalten Schlachten, dichtet sich selbst zu Widerstandskämpfern um, und schon sind die Generalstäbler dabei, eine Nibelungenwelt zu beschwören, von Atomwaffen zu träumen, vom heldenhaften Vernichtungskampf im Falle eines Angriffs, das Ende der Armee soll auch der Nation das Ende bereiten, gründlich, stur und endgültig, während ringsherum schon längst unterjochte Völker mit Mut und List davonzukommen wissen. Doch bahnt sich das mögliche Ende noch anders an, witziger. Ausländer kaufen den Boden auf, den man verteidigen will, die Wirtschaft wird von fremden Händen in Schwung gehalten und von den eigenen nur noch verwaltet, kaum noch gesteuert, der Staatsbürger bildet eine Oberschicht, unter der sich, in oft zu unverschämten Preisen vermieteten Wohnungen zusammengepfercht, sparsam und emsig Italiener, Griechen, Spanier, Portugiesen und Türken einnisten, zum Teil verachtet, oft noch Analphabeten, Heloten, ja für viele ihrer Herren Untermenschen, die einmal, zum bewußten Proletariat geworden, überlegen in ihrer genügsamen Vitalität ihre Rechte fordern könnten, in der Erkenntnis, daß der Betrieb, der sich unser Staat nennt, halb schon aufgekauft von fremdem Kapital, nur noch von ihnen abhängt. Unser kleines Land, so ahnt man und reibt sich verblüfft die Augen, ist in Wirklichkeit von der Geschichte abgetreten, als es ins große Geschäft eintrat.
Die Reaktion der Öffentlichkeit: Vor diesem Hintergrund hob sich der Mord des Dr.h.c. ab. Seine Wirkung war zu berechnen: da wir die Politik entpolitisiert haben — hier weisen wir in die Zukunft, nur hier sind wir modern, wirklich bahnbrecherisch, die Welt wird entweder untergehen oder verschweizern —, da von der Politik nichts mehr zu erwarten ist, keine Wunder, kein neues Leben, nur nach und nach vielleicht noch etwas bessere Straßen, da sich das Land selbst biologisch erfreulich benimmt und sich im Kinderzeugen zurückhält, (daß wir nicht zahlreich sind, ist unser großer, daß sich unsere Rasse dank der Fremdarbeiter langsam verbessert, unser größter Vorzug), herrscht Dankbarkeit über jede Unterbrechung des täglichen Trotts, ist jede Abwechslung willkommen, um so mehr als der jährliche Festzug der Zünfte in seiner steifen Würde bei weitem nicht die fehlende Fastnacht zu ersetzen vermag. Die Handlungsweise des Dr.h.c. Isaak Kohler wirkte daher befreiend, man hatte inoffiziell über etwas zu lachen, worüber man sich offiziell entrüstete, und schon am Abend seines Hinschieds ging das Wort um, das man einem hohen Stadtbeamten, wenn nicht gar dem Stadtpräsidenten zuschrieb, Kohler habe sich einen neuen Dr.h.c. verdient, indem er Professor Winters nächste Erst-August-Rede verhindert habe. Auch ließ das unglückliche Vorgehen der Polizei kaum zusätzliche sittliche Empörung zu, die Schadenfreude war einfach zu groß: Das Verhältnis der Bevölkerung zur Polizei ist gespannt, entspricht doch unsere Stadt schon lange nicht mehr ihrem Ruf. Unvermutet eine Großstadt geworden, will sie das Trauliche, Bürgerfleißige, Tugendliche bewahren, das sie sich immer zuschrieb und zuschreibt, will sie persönlich auch im Unpersönlichen bleiben, der Tradition verhaftet, auch wenn diese längst zum Teufel ging: Die Zeit ist mächtiger geworden als die Stadt mit all ihrem beflissenen Tun, sie macht mit ihr, was sie will. Und so sind wir denn weder die, die wir einmal waren, noch die, die wir nun sein müßten, leben im Kriege mit der Gegenwart, wollen nicht, was wir dennoch müssen, tun aus Trotz nie ganz, was nötig ist, sondern nur halb, bestenfalls, und auch das widerwillig. Der Ausdruck dieser Misere ist das Anwachsen der polizeilichen Funktionen: denn wer im Krieg mit der Gegenwart lebt, reglementiert. Unser Gemeinwesen ist weitgehend ein Polizeistaat geworden, der in alles hineinredet, in die Sittlichkeit und in den Verkehr (beide in chaotischem Zustand). Der Polizist stellt daher nicht so sehr ein Symbol des Schutzes dar als eines der Schikane. Schluß. Schwer alkoholisiert. Dazu ist eben die Appartementsdame in mein Büro gekommen (wieder die Mansarde in der Spiegelgasse), braucht juristischen Schutz. Werde ihr raten, sich einen Hund anzuschaffen. Den kann sie und sich selber nächtlich zweimal ausführen (Empfehlung des Tierschutzvereins, von Jämmerlin zähneknirschend akzeptiert).