Die geheime Reise der Mariposa - Michaelis Antonia (прочитать книгу TXT) 📗
Doch Jonathan druckte die Ratte an sich wie einen Schatz. »Das Leben kommt von Gott«, sagte er mit einem leisen Lacheln. »Auch das Leben einer Ratte. Lernt ihr keine Gottesfurcht, da, wo du herkommst?«
Jose knurrte. »Carmen«, sagte er dann.
Sie erreichten Santiago, als der Abend kam. Es war ein Tag voller Schweigen gewesen. Jonathans Schweigsamkeit war wie eine Mauer, gegen die Jose nicht ankam. Er wunschte, er hatte noch ein Dutzend Ratten unter Deck gefunden, damit Jonathan uber sie lachen konnte, doch Carmen blieb der einzige blinde Passagier. Sie hatte sich mit etwas Brot futtern lassen und war offenbar jetzt damit beschaftigt, unter Deck aufzuraumen. Ab und zu horte man etwas hinunterfallen.
Jose versuchte die Sullivan Bay anzulaufen. Er kannte die Bucht aus Erzahlungen: Sie war ein einziges Feld aus dunklen, ubereinandergelegten Stricken schwarzer Lava, die wirkten wie riesige Taue. Wo Gasblasen die oberste Lavaschicht zum Aufplatzen gebracht hatten, gab es Locher in der Lava: Hornitos, langst erkaltete Gesteinsformen. Sie sahen aus wie Augen. Jose schuttelte sich unwillkurlich.
»Auf der anderen Seite der Insel gibt es Siedler«, sagte er. »Angeblich. Du wirst jemanden finden, der dir weiterhilft.«
Jonathan antwortete nicht. Und dann drehte der Wind und druckte die Mariposa von Santiago fort.
»Es ware einfacher, eine der beiden Buchten da druben anzulaufen«, sagte Jonathan und zeigte zur anderen Seite.
Jose schnaubte. »Das ist Bartolome. Eine winzige Insel. Da gibt es keine Menschen. Was willst du dort?«
»Das wei?t du genau«, sagte Jonathan. »Und du wei?t auch, dass ich dazu keine Menschen brauche. Steure uns nach Bartolome.«
Jose seufzte und wendete die Mariposa. Er war inzwischen zu mude, um zu diskutieren. Er musste sich eine Weile auf festem Boden ausstrecken und schlafen. Im Abendlicht glichen die sandigen Zwillingsbuchten von Bartolome den Flugeln einer Mowe. In ihrer Mitte reckte sich steil eine schwarze Felsspitze in die Hohe wie ein Schnabel.
»Pinnacle Rock«, sagte Jose laut. Die Amerikaner hatten von diesem Felsen gesprochen, und auch seine Bruder, hinter vorgehaltener Hand. Als ware der schwarze Stein etwas Lebendiges, etwas Unberechenbares, etwas Gefahrliches. Jose spurte, dass die Abuelita etwas sagen wollte, und verbot ihr den Mund. Er ubergab Jonathan noch einmal das Steuer, kletterte nach vorn, um den Anker auszuwerfen und die Segel einzuholen. Trotz der Mudigkeit fuhlte sich jeder Handgriff leicht und eingeubt an, als hatte Jose sein Leben lang nichts anderes getan, als die Mariposa zu segeln. Aber der Schatten von Pinnacle Rock war tief und dunkel, und seine Spitze streifte die honiggelbe Flanke des Schiffs wie eine Drohung.
Das Wasser war hier nicht tief, es ging Jose nur bis zur Hufte. Er half Jonathan beim Hinunterklettern und spurte einmal mehr, wie schmachtig er war. »Wenn du ins Meer hinausschwimmst, wie willst du je darin versinken?«, sagte Jose mit einem unpassenden Lacheln. »Du hast kein Gewicht, dass, dich in die Tiefe zieht.«
»Wir werden sehen«, sagte Jonathan.
Dann wateten sie an Land. Dort blieben sie stehen und sahen sich an, und schlie?lich streckte Jonathan seine Hand aus. Er schuttelte Joses Hand stumm zum Abschied. Jose wollte tausend Dinge sagen. Er wusste, dass keines der tausend Dinge Jonathan umstimmen konnte. So legte er sich in den wei?en Sand, schloss fur einen Moment die Augen und bemuhte sich, nicht daran zu glauben, dass dieser Verruckte wirklich versuchen wurde zu sterben. Er bemuhte sich mit solcher Konzentration, dass er daruber einschlief.
Im Traum segelte er auf der Mariposa uber das Meer bis nach London. Jose wusste, dass es London war, denn am Ufer stand Jonathan und winkte mit einer englischen Flagge. Auf seiner Schulter sa? Carmen, die Reisratte, und mitten in der Flagge war ein Loch. »Das hat jemand mit der Pistole hineingeschossen!«, rief Jonathan in Joses Traum vom Ufer aus. »Aber wer? Wem gehort sie?«
Fruher hatte Jonathan gedacht, die Inseln waren von Anfang an grun: Man setzte seinen Fu? darauf und befand sich im Urwald, wo Millionen von gro?en bunten Bluten an den Baumen wuchsen und ihren su?lichen Duft verstromten. Isabela war nicht von Anfang an grun gewesen. Und auch hier lag nur vertrocknetes, sonnenverbranntes Land hinter dem Strand. Sein eigener Schatten zeichnete sich mit brutaler Scharfe auf dem Boden ab.
Er folgte einem vor langer Zeit ausgetretenen Pfad zwischen niedrigen Buschen hindurch – und trat beinahe auf das Nest eines Blaufu?tolpels. Ein Stuck weiter sonnte sich eine Schlange auf einem Stein, zwei Eidechsen huschten davon und ein trager gelber Landleguan beaugte Jonathan mit einem Blick voll gutmutiger Langeweile.
»Du hattest recht«, flusterte Jonathan. »Mama, du hattest recht. Sie lassen sich von einem dummen Menschen nicht storen. Wenn du nur hier warst und sie sehen konntest! Die Tiere, und auch die Pflanzen. Sie werden hoher und gruner, je weiter man sich vom Ufer entfernt …«
Und da beschloss Jonathan, auf den schwarzen Felsen am Rand der Bucht zu steigen, um die Insel von dort aus zu betrachten: als konnte er sie seiner Mutter zeigen, indem er sie selbst sah. Vielleicht konnte er ihr davon erzahlen. Er wurde ihr bald begegnen, nicht wahr? Sobald er den Mut fand, noch einmal ins Wasser zu gehen.
Er kehrte zuruck zum einen Ende des Strands, kletterte uber spitze Lavasteine und verfluchte seine blo?en Fu?e. Und dann sah er hinunter zum Wasser und entdeckte die Pinguine. Sie waren kleiner und unscheinbarer als ihre schwarz-wei?en Verwandten vom Sudpol, sie trugen einen schlichten Anzug mit braunlich gesprenkelter Brust und keinen schwarzen Frack. Dennoch waren es unzweifelhaft Pinguine. Sie spielten im Wasser zwischen den schwarzen Felsen wie Kinder, pfeilschnell, fischschnell. Doch die, die an Land kamen, verloren ihre Eleganz. Sie watschelten langsam und schwankend uber die Steine: wie eine Reisegruppe aus alteren Herrschaften, die auf dem Kreuzfahrtschiff ein Glaschen Sekt zu viel getrunken hatten. Er merkte, wie sich ein Grinsen in sein Gesicht stahl. Mama, dachte er, hatte laut gelacht.
Ein paar der Pinguine schienen die Kopfe zusammenzustecken, um uber etwas zu tuscheln. Nein, sie hatten sich uber etwas gebeugt, das am Boden lag. Einen weiteren Pinguin. Jonathan schluckte. War er tot? Oh, wie satt er den Tod hatte! Er schlich sich uberall ein, selbst in den Momenten, in denen man lachen wollte … Dann sah er, wie der Pinguin einen Flugel bewegte, hilflos, schwach, aber lebendig. Jonathan kletterte schneller uber die spitzen Steine hinunter, als er es fur moglich gehalten hatte.
Als er sich neben den Vogel kniete, wichen die anderen zuruck und sahen ihn aus verwunderten Knopfaugen an. Blut hatte das helle Gefieder des Pinguins dunkel verfarbt. Er hatte eine gro?e Wunde an der einen Flanke und offenbar konnte er den Flugel auf dieser Seite nicht bewegen. Es sah aus, als hatte jemand etwas nach ihm geworfen. Einen der scharfkantigen Steine, die hier herumlagen.
»Aber wer?«, wisperte Jonathan. »Wer hat das getan? Weshalb?«
Behutsam hob er den Pinguin hoch und hielt ihn im Arm wie ein Kind. Die blanken Augen des Vogels fanden seine und er las eine Bitte darin: Hilf mir, bat der Pinguin. Es war ein hoflicher Pinguin. Wenn du mich hier liegen lasst, werde ich sterben. Es macht nichts aus, denn uberall sterben Tiere, jeden Tag, es gehort dazu. Aber mir personlich wurde es doch etwas ausmachen.
»Naturlich«, flusterte Jonathan. »Naturlich helfe ich dir. Vielleicht gibt es auf der Mariposa etwas, um die Wunde zu saubern. Alkohol. Und Verbandszeug. Ich werde Jose fragen. Ich …«
Der Pinguin drehte den Kopf und sah aufs Meer hinaus, und Jonathan folgte seinem Blick.
Dort naherte sich vor der sinkenden Sonne von Westen her ein Schiff. Es war gro?er als die Mariposa, und obwohl er die Farbe nicht genau erkennen konnte, schien es ihm grau. Militargrau. Jonathan duckte sich instinktiv hinter einen Felsbrocken.