Die geheime Reise der Mariposa - Michaelis Antonia (прочитать книгу TXT) 📗
»So«, sagte Jose. »Wenn du wirklich mit mir fahrst, wird es Zeit zu erzahlen. Tausend Geschichten zu erzahlen. Du kannst daruber nachdenken, welche du zuerst erzahlst, wahrend ich noch eben die Positionslichter …«
»Warte«, unterbrach Jonathan ihn. »Tausend Geschichten konnen warten. Nur die tausendunderste ist jetzt wichtig. Es ist die Geschichte von einem amerikanischen Schiff, das irgendwo da drau?en in der Nacht liegt und lauert. Und dieses Schiff hat keine Lichter gesetzt, da mochte ich wetten. Es wartet auf uns.«
»Das Schiff, das vorhin neben der Mariposa lag und sofort wieder abgefahren ist? Ich habe es gesehen. Und ich glaube, ich kenne es. Das ist die Roosevelt. Ein etwas zu gro? geratener Name fur so ein kleines Schiff. Sie kommt von Baltra. Meine Bruder haben erzahlt, bis vor Kurzem sei sie ein privater Segler gewesen. Die Amis haben sie zu einem Militarschiff gemacht. Sie haben dem Besitzer eine Menge Geld gezahlt. Die Roosevelt ist nicht das einzige Schiff, das seine Farbe gewechselt hat, um in den Krieg zu ziehen.«
Jonathan lachelte uber seine Worte. Es war nicht wirklich so, dass dieses Schiff heroisch beflaggt in den Krieg zog. Die Roosevelt war also eines der vielen Kontrollschiffe, die die Inseln patrouillierten. Aber jetzt war sie auf der Suche.
»Sie suchen«, sagte Jonathan langsam. »Sie suchen … dich.«
Keiner der Manner hatte Joses Namen erwahnt – doch nach wem sollten sie sonst suchen?
»Ich habe sie reden horen«, fuhr Jonathan fort. »Sie sind hinter einer Karte her. Das ist eine der tausend Geschichten, die erzahlt werden mussen, nehme ich an.«
Jose nickte. »Keine Positionslichter also«, sagte er.
So verlie? die Mariposa Bartolome genauso unsichtbar, wie sie Baltra verlassen hatte. Ein Geisterschiff.
Jonathan tastete sich unter Deck und fand nach langem Suchen auf einem der Regale eine Kerze und Streichholzer. »Die eine Kerze unter Deck wird niemand sehen«, flusterte er zu Jose hinauf. »Es ist wegen Oskar. Ich muss mich endlich um seine Wunde kummern. Jose? Rauchst du?«
»Manchmal. Warum?«
»Es ist nur … es riecht hier so nach Tabak«, sagte Jonathan. »Vorhin roch es noch nicht nach Tabak.« Dann fiel ihm ein, dass Jose an Land gewesen war, genau wie er selbst. Carmen kletterte von seiner Schulter und setzte sich auf den Kajutentisch, um sich im Licht der Kerze zu putzen. Ihre Augen glitzerten schlau. Sie wusste mehr als er.
»Wenn du es bist, die raucht«, sagte Jonathan streng, »tu das blo? nicht dort hinten bei den Benzinkanistern. Die Dinger explodieren, verstehst du?«
Er wurde spater uber die Sache mit dem Tabak nachdenken. Zunachst brauchte er etwas, um Oskars Wunde zu desinfizieren. Er fand eine Flasche Rum zwischen den Dosen mit dem eingemachten Fleisch und ein paar alte Kleider neben den Kanistern. Der Stoff war bruchig, es war leicht, einen Streifen davon abzurei?en. Oskar beobachtete ihn angstlich, als er sein Gefieder mit dem rumdurchtrankten Hemdstoff sauberte. Aber er hielt brav still und lie? sich verbinden. Jonathan arbeitete sorgfaltig und konzentriert – und dann wurde ihm klar, dass es nicht Oskar war, den er verband. Im Geiste verband er andere Leute: seine Schwester Julia. Seine Mutter. Seinen Vater.
Er verbarg sein Gesicht in Oskars weichem Gefieder und atmete den tranigen, salzigen Fischgeruch. So sa? er lange auf der schmalen, harten Bank, den Pinguin im Arm, bis er merkte, dass der Vogel eingeschlafen war. Er legte die Wolldecke auf den Boden und bettete den Vogel darauf. Dann nahm er eine Dose mit eingemachten Erbsen vom Regal und stieg zuruck an Deck. »Zwei Fragen«, sagte er. »Erstens: Hast du etwas, um diese Dose zu offnen? Zweitens: Willst du mir nicht endlich erzahlen, wohin wir fahren und weshalb?«
So erzahlte Jose die Mariposa durch die Nacht und durch die Angst, von dem anderen Schiff entdeckt zu werden. Er erzahlte von Baltra und von der Farm zu Hause auf Isabela und von seinen erwachsenen Brudern. Vom Fliegen erzahlte er und von seinem Traum, ein Held zu sein. Und zum Schluss davon, was der junge Amerikaner am Hafen gesagt hatte.
»Wir werden herausfinden, wer auf der Isla Maldita lebt«, sagte er. »Falls jemand dort lebt. Und dann werden wir fliegen. Wir beide. Wie die Fregattvogel.«
Jonathan schwieg lange.
»Und die Karte?«, fragte er schlie?lich. »Sie haben gesagt, sie suchen eine Karte.«
»Ja, das … das ist seltsam«, sagte Jose. »Ich habe eine Karte. Die Kopie einer Karte. Angeblich liegt ein alter Piratenschatz auf der Isla Maldita. Aber wer glaubt schon an Piratenschatze? Der Letzte, der daran glaubte, war mein Urgro?vater. Und der ist nicht zuruckgekommen von der Insel.«
»Vielleicht finden wir ihn dort«, sagte Jonathan. »Er sitzt mit dem Schatz ganz allein auf der Insel und argert die Amerikaner, wenn sie vorbeifahren.«
»Hm«, sagte Jose und uberlegte. »Hundertundzwei. Er ware jetzt hundertundzwei. Irgendwie unwahrscheinlich. Aber eine hubsche Vorstellung: wie der zahnlose Alte dasitzt und einen Berg Diamanten lutscht wie Bonbons …«
In diesem Moment rissen die Wolken auf, genau wie in der Nacht zuvor, und das Mondlicht fing sich glei?end hell in den Segeln der Mariposa.
Jonathan sah sich um. »Jose«, flusterte er. »Sieh nur.«
Hinter ihnen fing sich das Mondlicht in den Segeln eines zweiten Schiffs. Eines gro?eren, stolzeren Schiffs. Die Roosevelt. Sie hatte wirklich keine Lichter gesetzt. Jose fluchte. Das andere Schiff war ein gutes Stuck entfernt – weit genug, um zu hoffen, dass die Manner darauf die Mariposa noch nicht entdeckt hatten. Links von ihnen erstreckte sich die Kuste von Santiago. An manchen Stellen lagen gro?e, zerkluftete Felsen vor der Kuste.
»Kopf runter!«, zischte Jose. Jonathan gehorchte, und der Mastbaum schwang zur anderen Seite, als Jose die Mariposa abrupt wendete. Dann druckte Jose Jonathan das Steuer in die Hand.
»Zwischen die Felsen!«, sagte er. »Steure sie zwischen die Felsen!«
Jonathans Hand zitterte, als er das Steuer ubernahm. Es war wahrscheinlicher, dass er das Schiff gegen die Felsen steuerte. Doch Jose war schon nach vorn geklettert, um die Taue der Segel zu losen. Als sie am ersten der Felsen voruber waren, lie? er das Gro?segel herunter und rief etwas, das Jonathan nicht verstand, aber er riss das Ruder herum. So glitt die Mariposa mitten zwischen die Felsen. Sie streifte einen von ihnen, ein hassliches Schaben ertonte, einen Moment spater hatte Jose das Vorsegel eingerollt und den Anker geworfen. Die Mariposa ruckte einmal an der Ankertrosse und stand, zitternd wie ein Pferd nach einem Wettlauf.
Jose kletterte zuruck nach hinten und eine Weile sa?en er und Jonathan ganz still nebeneinander. Sie sahen die Roosevelt nicht mehr, zwei der hohen Felsen lagen jetzt zwischen ihnen und dem offenen Wasser.
Es wird nichts nutzen, dachte Jonathan. Es ist ein schlechtes Versteck. Es gibt keine guten Verstecke fur eine ganze Jacht, nicht einmal fur eine so kleine Jacht wie die Mariposa …
»Jonathan!«, flusterte Jose und zeigte auf eine Lucke zwischen den Felsen. »Sie … sie fahren voruber! Sie fahren einfach weiter!«
Joses Augen glanzten in der Dunkelheit. Es schien ihm direkt Spa? zu machen, verfolgt zu werden. In der Ferne wurde die Roosevelt kleiner und kleiner und schlie?lich verschluckte die Nacht sie ganz.
In dieser Nacht traumte Jonathan wieder von Hamburg. Die Traume lie?en ihn nicht los, sie brachten die Vergangenheit zuruck, sobald er schlief.
Im Traum blickte er in Frau Adams Gesicht. Sie hatte sich uber ihn gebeugt und er horte sie Worte flustern. »Armes, armes Kleines«, flusterte sie. »Mein armes Kleines!«
Ihr Haar war bedeckt mit wei?em Staub. Er fuhr mit der Hand durch sein Gesicht und auch in seinem Gesicht war Staub. Staub und Blut. Da war eine Wunde an seiner Stirn. Sie brannte und ein dumpfer Schmerz pochte hinter seinen Schlafen.
»Mein armes Kleines!«, wiederholte Frau Adam. »Gut, dass du wieder zu dir kommst. Das mit der Lampe tut mir leid. Ich musste dich … au?er Gefecht setzen. Du warst drauf und dran, die Tur zu offnen und uns alle in den Tod zu rei?en. Drauf und dran …«