Die geheime Reise der Mariposa - Michaelis Antonia (прочитать книгу TXT) 📗
Julia zog eine Schnute, hopste aber gehorsam ins Haus, und gleich darauf horte Marit, wie sie die Treppe hinaufrannte.
»Wei?t du, was sie mir erzahlt hat?«, fragte Richard und trat noch einen Schritt naher. Nur der stinkende Mulleimer in Marits Armen befand sich noch zwischen ihr und Richard. Sie hielt ihn fest wie einen Schild.
»In eurem Holzschuppen spukt es.« Richard bemuhte sich um ein theatralisches Flustern.
»Wenn du Julia fragst, spukt es uberall«, antwortete Marit. »Unter ihrem Bett, im Kleiderschrank …«
»Wollen wir mal nachsehen, ob es im Schuppen wirklich spukt?«, fragte Richard und hielt etwas hoch, uber den Mulleimerschild. Einen Schlussel. Marit erkannte ihn. Es war der Schuppenschlussel. Mamas Schuppenschlussel mit dem roten Anhanger.
»Woher hast du den?«, fragte sie. »Wir suchen ihn seit Tagen.«
»Gefunden«, antwortete Richard. »Unter der Mulltonne, ganz hinten. Ihr solltet besser darauf aufpassen.« Er ging vorwarts und zwang Marit ruckwartszugehen, auf die Tur des Holzschuppens zu.
»Kommst du mit?«, flusterte er. »Ist sicher dunkel dort. Wahrscheinlich hast du zu viel Angst, oder? Dass es wirklich spuken konnte.«
»Unsinn«, sagte Marit und stellte den Mulleimer ab. »Gib den Schlussel her.«
Richard schob sie beiseite, steckte den Schlussel ins Schloss und drehte ihn um. Die Schuppentur offnete sich mit einem rostigen Quietschen nach innen.
»Na?«, fragte Richard. »Trauste dich da rein?«
Marit sah seinen abschatzigen Blick, er musterte sie von oben herab, grinsend. Sie wusste, dass sie den Schlussel aus der Tur ziehen, den Mull in die gro?e Tonne kippen und einfach verschwinden sollte. Aber sein Blick argerte sie.
Sie machte einen Schritt in den dunklen Holzschuppen. Es roch nach Holz und nach Ratten. Direkt hinter der Tur stand ein hohes Regal voll staubiger Einmachglaser. Das Regal verbarg den Blick auf den Rest des Schuppens. Sie lauschte einen Moment und wurde sich bewusst, wie unsinnig das war. Naturlich gab es im Holzschuppen keine schlurfenden Schritte von Geistern mit Eisenketten an den Fu?en.
»Hier ist niemand.«
Als sie sich zu Richard umdrehte, war er noch naher als zuvor. Ihre Nase beruhrte beinahe seinen Hals. Er schob die Schuppentur mit dem Fu? zu, sodass nur noch etwas Dammerlicht durch die Ritze drang, und stutzte seine Hande links und rechts von Marit auf die Regalbretter.
»Hier ist niemand?«, wisperte er. »Doch. Hier sind wir. Das reicht.«
Dann beugte er seinen Kopf und versuchte seine Lippen auf ihren zu platzieren, aber Marit drehte sich zur Seite, und der missgluckte Kuss landete auf ihrer Wange: warm und feucht und ungeschickt.
»Was soll das?«, zischte sie. »Hor auf damit!«
Richards Hand packte ihr Kinn und drehte es zu sich. »Ich wei? nicht, was du hast«, wisperte er. »Sieht uns doch keiner!«
Sein Gesicht kam wieder naher, und sie ballte die Fauste, um zuzuschlagen, aber in diesem Moment machte Richard wohl eine unkluge Bewegung, denn eine Kaskade von leeren Einmachglasern fiel mit einem lauten Krachen vom Regal.
»Was ist denn da los?«, rief jemand. Frau Adam. Richard lie? Marit los. Uber den Hof naherten sich Schritte und Frau Adam riss die Schuppentur auf. »Was macht ihr hier?«
»Wir … wollten etwas nachsehen«, murmelte Richard, wahrend er die Glaser zuruckstellte. Sie waren nicht kaputtgegangen. »Julia hat gesagt, es spukt hier, und …«
»So, so. Spukt«, sagte Frau Adam und zog Richard am Kragen aus dem Schuppen, obwohl er zwei Kopfe gro?er war als sie. »Und das glaubst du?«
»Nein«, sagte Richard und wand sich. »Ich …«
Marit schloss die Schuppentur, zog den Schlussel ab und steckte ihn ein. »Und du?« Frau Adams Zeigefinger pikte sie in die Brust. »Wolltest du auch nachsehen, ob es spukt, junge Dame?« Sie schuttelte den Kopf. »Ubrigens wohnst du ein Haus weiter, Richard. Da habt ihr einen eigenen Schuppen. Geh und guck dort nach, ob du einen Geist findest.«
Marit sah ihr nach, wie sie uber den Hof davonschlurfte. Vielleicht, dachte sie, war es nur Frau Adam gewesen, die Julia im Schuppen hatte herumschlurfen horen. Als Richard gegangen war, hob sie den Abfalleimer auf und kippte seinen Inhalt in das gierige Maul der gro?en Metalltonne: Zwiebelschalen, verfaultes Gemuse, ein paar zerrissene Putzlumpen, starr vor Dreck. An einem der Putzlumpen war ein Knopf. Ein Hemdknopf. Sie sah genauer hin und entdeckte noch einen Knopf. Vielleicht waren es keine Putzlumpen. Marit uberwand ihren Ekel, griff in die Mulltonne und zog ein Stuck Stoff aus dem Durcheinander. Es sah aus, als ware es einmal eine Hemdtasche gewesen. Auf dem Stoff prangte ein gro?er dunkler Fleck. Braunlich rot. Blut.
Sie lie? den Fetzen fallen. Jemand hatte all diese Kleider sehr sorgfaltig in Stucke gerissen, damit niemand sie als Kleider erkannte. Nicht sorgfaltig genug. Sie hielt sich mit einer Hand die Nase zu, griff mit der anderen noch einmal in den Mull, tiefer jetzt, und stopfte die Kleiderfetzen tief zwischen die anderen Abfalle hinein, ehe sie den Deckel der Mulltonne schloss.
Als sie die Treppe hinaufging, zitterten ihre Knie. Hatte jemand vom Fenster aus gesehen, wie sie in der Tonne gewuhlt hatte? Sie konnte sagen, sie hatte etwas gesucht, etwas versehentlich Weggeworfenes … In Marits Kopf hammerte ein Wort: Nachtfalter, Nachtfalter … Mission Nachtfalter … Wo war Mama neulich Nacht gewesen? Brachte sie in der Dunkelheit Leute um? Wurde sie Marit antworten, wenn sie sie fragte? Nein, dachte sie dann. Sie wurde nicht fragen. Es war besser, die Antwort nicht zu wissen.
Sie spurte Richards Lippen noch auf ihrer Wange, als sie aufwachte. Nein. Es war etwas anderes. Etwas Feuchtes, Merkwurdiges, das nicht aus ihrem Traum stammte. Sie setzte sich auf, griff danach und schrie auf. Etwas Kleines, Glibberiges lag in ihrer Hand. Jemand lachte.
»Ein Tintenfisch«, sagte Jose hinter ihr. »Es ist ein Tintenfisch.«
»Oh«, sagte Marit. Jetzt sah sie, dass eine ganze Reihe von kleinen braunen Tintenfischen neben ihr im Sand lag. Daneben sa? Kurt der Albatros und sah sehr stolz aus. Die Tintenfische hingegen sahen sehr tot aus.
»Er hat sie gefischt«, erklarte Jose. »Heute Nacht.«
Marit drehte sich um. Offenbar war Jose schon eine Weile wach. Er hatte sein Hemd ausgezogen und trug es in der Hand, und etwas befand sich darin; etwas Schweres.
Und als er die Zipfel des Hemds offnete, ergoss sich ein Wasserfall an Orangen in den Sand. »Ich habe einen ganzen Baum voll gefunden«, sagte er.
Marit nahm eine Orange in die Hand. »Das«, sagte sie, »sind die schonsten Orangen, die ich jemals gesehen habe. Vielleicht liegt es daran, dass sie uns das Leben retten. Solange wir Orangen haben, werden wir nicht verdursten.«
»Fragt sich, wie lange sie ausreichen«, sagte Jose. »Na, verhungern werden wir auch nicht.« Er fuhr Kurt uber den gro?en wei?en Federkopf. »Solange jemand Tintenfische fur uns fangt. Wir konnen sie grillen. Aber zuerst werde ich versuchen, diese Spitze zu suchen, die vor der Insel aus dem Wasser ragt. Die, die auf der Karte eingezeichnet ist. Und wenn ich sie gefunden habe, werde ich auch den Weg auf der Karte finden. Am Ende dieses Wegs ist das schwarze Kreuz. Vielleicht waren die Manner gestern Nacht nur Einbildung. Aber vielleicht waren sie es nicht. Vielleicht begreife ich, wer sie waren, wenn ich die Stelle mit dem Kreuz finde.«
»Warum sagst du › ich‹?«, fragte Marit. »Du sagst die ganze Zeit › ich‹! Willst du denn ganz allein suchen?«
»Ich dachte, du findest es vielleicht lacherlich und dumm, wenn ich suche.«
»Naturlich.« Marit setzte die zerknitterte karierte Mutze ihres Vaters auf. »Es istlacherlich und dumm. Du wirst keinen Piratenschatz finden und auch keine deutsche Funkstation. Du wirst gar nichts finden. Aber wenn es das ist, was dir wichtig ist – dann helfe ich dir, es zu suchen.«
Jose ging am Wasser entlang in die eine Richtung und Marit in die andere. Sie hatten beschlossen, sich bei ihrem Lagerplatz wiederzutreffen, wenn die Sonne am hochsten Punkt stand. Die Mitglieder ihres kleinen Zoos schienen ebenfalls die Insel zu erkunden. Chispa war mit den anderen Seelowen davongeschwommen.