Die geheime Reise der Mariposa - Michaelis Antonia (прочитать книгу TXT) 📗
In dem Moment, als er das sagte, sah er sie. Sie war zwischen den niedrigen Buschen unterwegs ins Innere der Insel.
Er sprang auf und lief uber den Strand, vorbei an zwei Riesenschildkroten, die jetzt in ihren Panzern zu schlafen schienen.
»Marit!«, rief Jose leise, doch sie drehte sich nicht um. »Marit, bleib stehen!«
Er arbeitete sich durch Dornen und Aste voran, aber es war seltsam: Er kam ihr nicht naher. Der Abstand zwischen ihnen schien immer gleich zu bleiben. Oder bildete er sich das ein? Marits Schatten vor ihm bewegte sich durch hoheres und hoheres Gestrupp, schlie?lich sah er den Schatten nur noch von Zeit zu Zeit auftauchen. Wie lange folgte er ihr schon uber die Insel? Ein paar Minuten? Eine Stunde? Er hatte jedes Zeitgefuhl verloren. Er wusste nur, dass er Marit nicht aus den Augen verlieren durfte. Und plotzlich kam ihm ein beunruhigender Gedanke: Was, wenn sie es gar nicht war?
Wenn er jemand anders folgte? Jemandem, der gekommen war, damiter ihm folgte?
Jose blieb stehen. Der Wald war dicht und undurchdringlich hier. Wurde er zuruckfinden, wenn er es versuchte? Wie dunkel es war! Er hielt den Atem an und lauschte. Etwas raschelte zu seiner Rechten. Etwas Gro?es. Es ist nur ein wilder Bulle, dachte Jose, ein Bulle wie auf Santiago … Er horte jetzt deutlich Schritte. Menschliche Schritte. Als Jose weiterging, schienen sich die Schritte parallel zu ihm zu bewegen. Wer immer dort war, wusste er, dass Jose hier war? Jose blieb wieder stehen. Und da sah er den Feuerschein. Er tanzte durch die Stamme der Baume zu seiner Rechten, tanzte jetzt auf ihn zu und verwandelte den Wald in ein bewegliches Schattengebilde. Jose erkannte nicht, wer das Feuer trug, aber eines war sicher: Es war kein Tier.
Und diesmal auch keine Schildkrote. Es war ein Mensch. Jose besa? nichts, um sich zu verteidigen.
Er drehte sich um, um zu fliehen, da kam ihm aus der anderen Richtung ein ahnlich unstetes Flackern entgegen. Fackeln, dachte er. Sie tragen Fackeln. Aber wer waren sie?
Und wo war Marit?
Hab ich es dir doch gesagt,flusterte die Abuelita, es ist keine gute Idee, die verfluchte Insel zu betreten. Uber die Schildkroten hast du gelacht, ja, aber nun hast du nichts mehr zu lachen, nun ist es aus mit dir …
Der Feuerschein zur Rechten bewegte sich an Jose vorbei, und dann rief jemand: »Senor? Ich hab sie! Ich hab sie gefunden!« Es war die Stimme eines Mannes. Jose hatte sie noch nie gehort. Kurz darauf trafen sich die beiden Fackeltrager irgendwo vor ihm im Busch. Er atmete auf. Sie waren an ihm vorbeigegangen, ohne ihn zu bemerken. Jetzt flusterten sie wieder. Er verstand nur Wortfetzen:
»… arme Kleine, allein hier zwischen …«
»… sie nicht gefunden … der Wald ist voller …«
»… schon fruher … auf dem Schiff und …«
Marit, dachte Jose. Sie sprechen uber Marit.
»… die Erinnerung«, sagte jetzt eine der beiden Stimmen. »… die Traume … stets die gleiche Nacht … sie sieht die Stadt brennen … dass ihre Schwester tot …« Und dann, zuletzt: »… muss ein Ende haben.«
Danach entfernten sich die Schritte, begleitet vom Fackelschein. Jose stand einen Moment wie gelahmt. Woher wussten die dort in der Dunkelheit, wovon Marit traumte? Wer waren sie? Er folgte ihnen zogernd, schlich dem Schattentanz der Aste nach, holte ein Stuck auf … und endlich erkannte er wenigstens so etwas wie zwei Schemen: einen kleinen, schmachtigen und einen gro?en, breitschultrigen. Der gro?e trug eine leblose Gestalt uber der Schulter. Verglichen mit seinem hunenhaften Korper wirkte sie winzig und zerbrechlich, als hatte die Nacht sie schrumpfen lassen: Marit. Wie merkwurdig, dachte Jose. Er hatte die gleiche Situation schon einmal erlebt, nur umgekehrt: im Busch auf Santiago. Damals war er es gewesen, der uber der Schulter eines Fremden weggetragen wurde. Und Marit war ihnen gefolgt. Marit hatte Steine geworfen, sie abgelenkt, ihn befreit. Hier gab es keine praktischen Felsen in der Nahe, von denen aus er etwas werfen konnte.
Wenn er nur gewusst hatte, was mit Marit geschehen war! War sie verletzt?
Die Manner traten aus dem Wald auf eine freie Flache hinaus und wateten nun durch hufthohes Gras wie durch Wasser. Jose blieb einen Moment zwischen den Baumen stehen. Schlie?lich holte er tief Luft und sprintete los. Er wurde mit seinen blo?en Handen kampfen. Er musste es versuchen.
Er kam nicht weit.
Nach ein paar Metern stolperte er uber etwas, das im hohen Gras lag, und fiel der Lange nach hin, zum zweiten Mal in dieser Nacht. Als er diesmal aufsah, war es keine Riesenschildkrote, die sich uber ihn beugte. Es war Marit.
»Jose?«, flusterte sie und blinzelte, eben erst erwacht. »Was … was ist passiert? Wo sind wir?«
Er offnete den Mund, doch er war unfahig zu antworten. Er verstand nichts.
»Bin ich wieder im Schlaf gewandert?«, wisperte Marit. Dann nickte sie und antwortete sich selbst. »Ja, das bin ich wohl. Und du bist mir gefolgt, damit ich nicht in irgendeinen Vulkankrater falle.«
Da fand Jose endlich Worte, doch sie ergaben wenig Sinn. »Wie … wie kannst du hier sein?«, flusterte er. »Du hingst eben noch uber der Schulter dieses Mannes.« …
Er stand auf und half Marit auf die Beine. Die weite, hugelige Pampa war leer. Da war nur hohes Gras. Keine Gestalten, die jemanden wegtrugen. Marit legte eine Hand auf seinen Arm, eine warme Hand in der kalten Nacht. »Kann es sein«, fragte sie leise, »dass auch du bisweilen dumme Traume traumst?«
Den Rest der Nacht verbrachten sie am Strand, dicht nebeneinander, als mussten sie sich gegenseitig warmen. Doch die Kalte, die Jose spurte, kam von innen. Er hatte ein Stuck seines Hemds abgerissen und Marits rechtes Handgelenk an sein linkes gebunden. Er hatte keine Lust, noch einmal aufzuwachen und den Platz neben sich leer vorzufinden. Er wusste nicht mehr, was Traum und was Wirklichkeit war. Die Isla Maldita lie? die Grenzen verschwimmen.
Vielleicht, dachte er, ehe er einschlief, war es das: Vielleicht war sein Urgro?vater einfach verruckt geworden. Vielleicht gab es gar nichts Besonderes auf dieser Insel – keine herumgeisternden Piraten, keine deutschen Spione. Vielleicht wurde einfach nur jeder hier verruckt. Aber was lag dann an der Stelle verborgen, an der in der Karte das schwarze Kreuz eingezeichnet war?
Als sie wieder neben Jose im Sand lag, fragte sich Marit, was sie getraumt hatte. Ihr Traum war unterbrochen worden, und sie wusste, dass sie ihn zu Ende traumen musste. Sie fuhlte den Stoffstreifen um ihr Handgelenk und lachelte in der Nacht.
»Mein dummer Bruder«, flusterte sie, weil sie wusste, dass er schlief und sie nicht horte. »Glaubst du, ein Streifen Stoff konnte die Dinge andern? Die Geschichte wird so enden, wie sie enden soll, und wenn das bedeutet, dass ich in den Busch gehe und dort jemanden treffe, dann werde ich in den Busch gehen und jemanden treffen.«
Plotzlich wusste sie wieder, was sie getraumt hatte, als Jose uber sie gestolpert war.
Sie hatte im Hof gestanden, zu Hause … und sie schloss die Augen und stand abermals dort. Sie trug den Kuchenabfalleimer, aus dem es nach fauligem Gemuse roch. Es war Abend, ein Abend, nicht lange nach der Sache mit dem Nachtfalter. Im Hof hopste Julia auf und ab und schwang ein Springseil. Sie redete mit jemandem, wahrend sie hopste.
»Und dann habe ich …« – ein Hopser – »sie wieder gehort, die …« – ein Hopser – »Schritte. So schlurfend …« – ein letzter Hopser – »wie von einem mit einer Eisenkette am Bein.«
Sie war stehen geblieben und sah zu den Mulltonnen, und da entdeckte Marit die Gestalt, die zwischen den Tonnen an der Mauer lehnte. Richard.
»So, so«, sagte Richard langsam. »Soo, soo.«
»Was machst du hier?«, fragte Marit.
»Ich rede mit deiner kleinen Schwester«, sagte Richard und loste seine lange Gestalt aus dem Schatten. »Was dagegen?«
»Julia, geh rein und wasch dir die Hande«, sagte Marit. »Wir essen gleich.«