Der Schwarm - Schatzing Frank (читать книги TXT) 📗
Dann fiel ihm ein, dass sie den Schein seiner Lampe unter Wasser sehen konnten.
Er schaltete sie aus. Dunkelheit umfing ihn.
Wie dumm. Wo waren die beiden entlanggelaufen? Sie gingen in Richtung Heck. Vielleicht konnte er zum Bug schwimmen und seine Untersuchung dort fortsetzen. Mit gleichma?igen Flossenschlagen machte er sich auf den Weg. Nach einer Weile kam er wieder hoch, drehte sich auf den Rucken und sog Luft in sich hinein, den Blick auf die Kaimauer gerichtet, aber niemand war zu sehen.
Auf Hohe des Ankers lie? er sich wieder nach unten sinken. Seine Finger ertasteten vorsichtig die Bordwand. Auch hier bildeten die Muscheln bizarre Wucherungen. Er suchte nach einem Spalt oder gro?eren Vertiefungen, fand aber nichts Derartiges. Das Beste wurde sein, die Box mit weiteren Muscheln zu fullen und schleunigst wieder zu verschwinden. In seiner Hast schnitt er die Tiere jetzt weniger sorgfaltig ab. Seine Hande zitterten. Diese ganze Aktion war der Plan eines Dilettanten, das wurde ihm deutlich bewusst. Ihm war schrecklich kalt, seine Fingerspitzen hatten jedes Gefuhl verloren.
Seine Fingerspitzen …
Plotzlich fiel ihm auf, dass er sie sehen konnte. Er schaute an sich hinab. Auch seine Arme und seine Beine. Sie leuchteten. Nein, das Wasser hatte zu leuchten begonnen. Es fluoreszierte in tiefdunklem Blau.
Mein Gott, dachte Anawak.
Im nachsten Moment blendete ihn grelles Licht. Instinktiv riss er die Arme hoch und schirmte seine Augen ab. Lichtblitze. Die Wolke. Was geschah mit ihm? Worauf hatte er sich blo? eingelassen?
Aber es war kein Lichtblitz. Das grelle Licht blieb. Anawak erkannte, dass er von einem Unterwasserscheinwerfer angeleuchtet wurde. Weitere Scheinwerfer flammten entlang der Docksohle auf. Sie tauchten den Rumpf der Barrier Queen in harte Helligkeit. Deutlich sah er die furchigen, hugeligen Krusten aus Muscheln und erschauderte.
Das galt ihm. Sie hatten ihn entdeckt!
Einen Moment lang wusste er nicht, was er tun sollte. Aber es gab nur einen Weg. Er musste versuchen, zuruck ans Heck zu gelangen, dorthin, wo die Stiege nach oben fuhrte und wo seine Tasche auf ihn wartete. Mit klopfendem Herzen schnellte er vorbei an den grellen Lichtern. In seinen Ohren rauschte das Wasser. Die Luft wurde ihm knapp, aber er wollte nicht auftauchen, bevor er nicht die Stiege erreicht hatte.
Da war sie, im Zickzack der Docksohle zustrebend.
Seine Hande umklammerten das Gelander, und er zog sich hoch. Von oben horte er lautes Rufen und das Getrampel laufender Fu?e. Hastig streifte er Flossen und Maske ab, klinkte die Stablampe an seinem Gurtel fest und schlich geduckt nach oben, bis er uber den Rand schauen konnte.
Drei Gewehrmundungen waren auf ihn gerichtet.
In der Baracke gab man Anawak eine Decke. Er hatte versucht, den Soldaten zu erklaren, dass er Mitglied des Wissenschaftlichen Krisen-Stabs sei, aber sie horten ihm uberhaupt nicht zu. Ihre Aufgabe bestand darin, ihn dingfest zu machen. Nachdem er offensichtlich keinen Widerstand leistete und auch nicht zu fliehen versuchte, hatten sie ihn in die Baracke getrieben, wo noch mehr Soldaten waren und ein diensthabender Offizier, der ihn mit Fragen locherte. Anawak wusste, dass es zwecklos war, irgendwelche Geschichten zu erzahlen. Sie wurden ihn ohnehin nicht laufen lassen. Also erzahlte er, wer er war und warum er hier war — kurz, die Wahrheit.
Der Offizier horte nachdenklich zu. »Konnen Sie sich ausweisen?«, fragte er.
Anawak schuttelte den Kopf. »Meine Papiere sind in meiner Tasche, und die steht drau?en. Ich konnte sie holen.«
»Sagen Sie uns einfach, wo die Tasche ist.«
Er beschrieb den Soldaten, wo er die Sporttasche abgestellt hatte. Funf Minuten spater hielt der Offizier seinen Ausweis in Handen und studierte ihn aufmerksam.
»Falls Ihre Papiere nicht gefalscht sind, hei?en Sie Leon Anawak, wohnhaft in Vancouver …«
»Nichts anderes erzahle ich die ganze Zeit.«
»Erzahlt wird vieles. Wollen Sie einen Kaffee? Sie sehen ziemlich durchgefroren aus.«
»Ich bin ziemlich durchgefroren.«
Der Offizier stand von seinem Schreibtisch auf, ging zu einem Automaten und druckte auf eine Taste. Ein Pappbecher fiel unten heraus und fullte sich mit dampfender Flussigkeit. Anawak trank in kleinen Schlucken und fuhlte ein bisschen Warme in seinen klammen Korper zuruckkehren.
»Ich wei? nicht, was ich von Ihrer Geschichte halten soll«, sagte der Offizier, wahrend er langsam um ihn herumwanderte. »Wenn Sie zum Krisenstab gehoren, warum haben Sie dann kein offizielles Ersuchen eingereicht?«
»Fragen Sie das Ihre Vorgesetzten. Ich versuche seit Wochen, Kontakt mit Inglewood aufzunehmen.«
Der Offizier legte die Stirn in Falten.
»Sie sind freier Mitarbeiter des Stabs?«
»Ja.«
»Verstehe.«
Anawak sah sich um. Er vermutete, dass der mit Resopalstuhlen und schabigen Tischen moblierte Raum als Pausenraum fur die Dockarbeiter diente. Jetzt war er offenbar umfunktioniert worden zu einer provisorischen Kommandostelle.
Er hatte die ganze Sachlage vollkommen falsch eingeschatzt.
»Und jetzt?«, fragte er.
»Jetzt?« Der Offizier setzte sich ihm gegenuber und verschrankte die Finger. »Ich muss Sie bitten, vorerst hier zu bleiben. Der Fall ist nicht so einfach. Sie befinden sich auf militarischem Sperrgebiet.«
»Nirgendwo steht ein Schild, wenn ich das anmerken darf.«
»Ein Schild mit der Genehmigung einzudringen steht hier ebenso wenig, Dr. Anawak.«
Anawak nickte. Was sollte er sich beschweren? Es war eine Schnapsidee gewesen. Oder auch nicht, immerhin wusste er nun, dass die Armee an der Sache arbeitete, dass sie die Organismen am Rumpf studierte und am Leben erhielt. Die Muscheln, die er fur Oliviera gesammelt hatte, wurden Nanaimo wohl kaum erreichen, sofern die Verantwortlichen weiterhin mauerten.
Der Offizier zog ein Funkgerat vom Gurtel und fuhrte ein kurzes Gesprach. »Sie haben wirklich Gluck«, sagte er dann. »Es wird jemand kommen, um sich mit Ihnen zu befassen.«
»Warum nehmen Sie nicht einfach meine Personalien auf und lassen mich gehen?«
»So einfach ist das nicht.«
»Ich habe nichts Unrechtma?iges getan«, sagte Anawak. Es klang nicht sonderlich uberzeugend, nicht mal in seinen eigenen Ohren.
Der Offizier lachelte. »Auch fur Mitglieder eines Krisenstabs gelten die Regeln des Hausfriedensbruchs. Im zivilrechtlichen Sinne.«
Er ging hinaus. Anawak blieb zusammen mit den ubrigen Soldaten in der Baracke. Sie sprachen nicht mit ihm, behielten ihn aber im Auge. Allmahlich wurde ihm wieder warm vom Kaffee und vom Arger daruber, es verpatzt zu haben. Er hatte sich angestellt wie der letzte Idiot. Der einzige Trost war die Aussicht auf ein paar Informationen, wenn wer auch immer eintraf, um sich mit ihm ›zu befassen‹.
Eine halbe Stunde verstrich in untatigem Warten. Dann horte er einen Helikopter naher kommen. Er wandte den Kopf und schaute aus dem Fenster, das zum Hafenbecken hinausging. Licht stromte ins Innere der Baracke. Ein starker Scheinwerfer schwebte dicht uber dem Wasser. Kurz schwoll das Knattern der Rotoren ohrenbetaubend an, als der Helikopter das Gebaude uberflog und tiefer ging. Das Knattern verwandelte sich in rhythmisches Flappen. Die Maschine war gelandet.
Anawak seufzte. Jetzt wurde er alles ein zweites Mal erzahlen mussen. Wer er war, was er hier zu suchen hatte.
Uber den gepflasterten Platz naherten sich Schritte. Gesprachsfetzen klangen auf. Zwei Soldaten traten ein. Ihnen folgte der Offizier.
»Sie haben Besuch, Dr. Anawak.«
Er ging einen Schritt zur Seite. Eine weitere Person erschien als Schattenriss im erleuchteten Turrahmen. Anawak erkannte sie sofort. Kurz verharrte sie dort, als wolle sie sich einen Uberblick verschaffen. Dann kam sie langsam naher, bis sie dicht vor ihm stand. Anawak sah in wasserblaue Augen. Zwei Aquamarine in einem asiatischen Gesicht.