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Der Schwarm - Schatzing Frank (читать книги TXT) 📗

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Dumpf uberkam ihn die Ahnung, dass soeben etwas zu Ende ging. Nie wieder wurden sie so zusammenkommen.

Greywolf uberprufte den Sitz des Geschirrs am sechsten und letzten Tier der Staffel und nickte befriedigt.

»In Ordnung«, sagte er. »Lassen wir sie raus.«

Hochsicherheitslabor

»Ich blode Kuh. Ich muss blind gewesen sein!«

Oliviera starrte den Bildschirm an, auf dessen Oberflache das Fluoreszenzmikroskop die Vergro?erung der Probe ubertrug. In Nanaimo hatte sie die Gallerte mehrfach untersucht, beziehungsweise das, was davon ubrig geblieben war, nachdem sie das Zeug aus den Hirnen der Wale gepult hatten. Auch den Fetzen, der nach dem Tauchgang unter der Barrier Queen an Anawaks Messer hangen geblieben war, hatte sie unter die Lupe genommen. Aber nie ware sie auf die Idee gekommen, von einer zerfallenden Substanz auf einen Zusammenschluss aus Einzellern zu folgern.

Es war geradezu peinlich!

Dabei hatte sie es langst schon wissen konnen. Aber in der Pfiesteria -Hysterie hatten alle nur noch Killeralgen vor Augen gehabt. Selbst Roche war entgangen, dass die zerflossene gallertige Substanz gar nicht verschwunden, sondern auf dem Objekttrager seines Mikroskops zu sehen gewesen war, die ganze Zeit uber, in Gestalt einzelliger, toter oder sterbender Organismen. Im Innern der Hummer und Krabben war bereits alles vertreten gewesen, und alles hatte sich miteinander gemischt, Killeralgen, Gallerte — und Meerwasser.

Meerwasser!

Vielleicht ware Roche der fremdartigen Substanz auf die Schliche gekommen, hatte nicht ein einziger Tropfen davon Universen an Lebensformen beherbergt. Jahrhundertelang hatte man vor lauter Fischen, Saugern und Crustaceen 99 Prozent des marinen Lebens schlicht ubersehen. In Wahrheit beherrschten nicht Haie, Wale und Riesenkraken die Ozeane, sondern Heerscharen mikroskopischer Winzlinge. In einem einzigen Liter Oberflachenwasser wuselten Dutzende Milliarden Viren, eine Milliarde Bakterien, funf Millionen tierische Einzeller und eine Million Algen bunt durcheinander. Selbst Wasserproben aus der lichtlosen und lebensfeindlichen Tiefe jenseits 6000 Meter forderten noch Millionen Viren und Bakterien zutage. In dem Getummel die Ubersicht zu behalten, war so gut wie aussichtslos. Je tiefer die Forschung vordrang in den Kosmos des Allerkleinsten, desto unuberschaubarer bot er sich dar. Meerwasser? Was sollte das sein? Ein genauer Blick durch ein modernes Fluoreszenzmikroskop legte den Schluss nahe, es eher mit einer Art dunnem Gel zu tun zu haben. Wie Hangebrucken durchzog ein Flechtwerk untereinander verknupfter Makromolekule jeden Tropfen. Zwischen Bundeln transparenter Faden, Hautchen und Filme fanden unzahlige Bakterien ihre okologische Nische. Um zwei Kilometer ausgespannter DNS-Molekule, 310 Kilometer Proteine und 5600 Kilometer Polysaccharide zu messen, brauchte man eben mal einen Milliliter. Und irgendwo dazwischen verbargen sich die Mitglieder einer moglicherweise intelligenten Lebensform. Sie verbargen sich, indem sie sich offen prasentierten als Allerweltsmikroben. So bizarr sich die Gallerte ausnahm, bestand sie keineswegs aus exotischen Lebewesen, sondern aus hundsordinaren Tiefseeamoben.

Oliviera stohnte auf.

Es lag offen zutage, warum Roche nichts begriffen hatte, sie selber nicht, keiner der Leute, die das Wasser aus dem Trockendock analysiert hatten. Niemand war auf die Idee gekommen, Tiefseeamoben konnten zu Kollektiven verschmelzen, die Krabben und Wale steuerten.

»Es kann nicht sein«, beschied Oliviera.

Ihre Worte klangen seltsam kraftlos. Ohne Nachhall blieben sie unter der Haube ihres Schutzanzugs stecken. Erneut verglich sie die taxonomischen Resultate miteinander, aber es anderte nichts an dem, was sie schon wusste. Augenscheinlich setzte sich die Gallerte aus Vertretern einer Amobenart zusammen. Wissenschaftlich beschrieben. Eine Spezies, die gro?tenteils unterhalb von 3000 Metern vorkam und bisweilen hoher, und das in unvorstellbaren Massen.

»Blodsinn«, zischte Oliviera. »Du verarschst mich doch, Kleines. Hast dich verkleidet. Siehst aus wie eine Amobe. Ich glaub dir nichts, ich glaub dir gar nichts! Was zum Teufel bist du wirklich?«

DNA

Nach Johansons Ruckkehr machten sie sich gemeinsam daran, einzelne Zellen der Gallerte zu isolieren. Ohne Unterlass vereisten und erhitzten sie die Amoben, bis die Zellwande platzten. Nach Zugabe von Proteinase zerbrachen die Eiwei?molekule in Ketten von Aminosauren. Sie mischten Phenol bei und zentrifugierten die Proben, ein aufwandiges und langwieriges Procedere, befreiten die Losung von Eiwei?trummern und Zellwandbestandteilen, nahmen die Fallung vor und erhielten endlich eine wenig klare, wassrige Flussigkeit, den Schlussel zum Verstandnis des fremden Organismus.

Reine DNA-Losung.

Der zweite Schritt forderte ihre Geduld noch mehr. Um die DNA zu entschlusseln, mussten sie Teile davon isolieren und vervielfaltigen. Als Ganzes war das Genom nicht lesbar, weil zu komplex, also sturzten sie sich in Sequenzanalysen bestimmter Teilabschnitte.

Es war eine Heidenarbeit, und von Rubin hie? es, er sei krank.

»Dieses Arschloch«, schimpfte Oliviera. »Jetzt hatte er wirklich helfen konnen. Was fehlt ihm uberhaupt?«

»Migrane«, sagte Johanson.

»Der Gedanke hat allerdings was Trostliches. Migrane tut weh.«

Oliviera pipettierte die Proben in die Sequenziermaschine. Es wurde einige Stunden dauern, sie durchzurechnen. Einstweilen konnten sie nichts tun, also lie?en sie den obligatorischen Saureregen uber sich ergehen und traten aufatmend ins Freie. Oliviera schlug eine Zigarettenpause auf dem Hangardeck vor, solange die Maschine rechnete, aber Johanson hatte eine bessere Idee. Er verschwand in seiner Kabine und kehrte funf Minuten spater mit zwei Glasern und einer Flasche Bordeaux zuruck.

»Gehen wir«, sagte er.

»Wo haben Sie die denn aufgetrieben?«, staunte Oliviera, wahrend sie die Rampe emporschritten.

»So was treibt man nicht auf«, schmunzelte Johanson. »So was bringt man mit. Ich bin ein Meister im Mitfuhren verbotener Dinge.«

Sie beaugte neugierig die Flasche.

»Ist der gut? Ich verstehe nicht so furchtbar viel davon.«

»Ein 90er Chateau Clinet. Pomerol. Lockert den Geldbeutel und die Gesinnung.« Johanson erspahte eine metallene Kiste neben einem der Spantenburos und hielt darauf zu. Sie setzten sich. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Ihnen gegenuber klaffte das Tor zur Steuerbordplattform und gab den Blick frei aufs Meer. Ruhig und glatt erstreckte es sich im Dammer der polaren Nacht, uberzogen von Schleiern aus Dunst und Frost, eisfrei. Es war kalt im Hangar, aber nach den vielen Stunden im Hochsicherheitslabor brauchten sie dringend frische Luft. Johanson entkorkte die Flasche, goss ein und stie? sein Glas leicht gegen ihres. Ein helles Ping verlor sich in der dusteren Weite.

»Schmeckt!«, beschied Oliviera.

Johanson schmatzte mit den Lippen.

»Ich habe ein paar Flaschen fur besondere Anlasse mitgenommen«, sagte er. »Und das ist ein besonderer Anlass.«

»Sie glauben, wir kommen diesen Dingern auf die Spur?«

»Vielleicht sind wir es ja schon.«

»Den Yrr?«

»Tja, das ist die Frage. Was haben wir da im Tank? Kann man sich eine Intelligenz vorstellen, die aus Einzellern besteht? Aus Amoben?«

»Wenn ich mir die Menschheit so anschaue, frage ich mich bisweilen, was uns sonderlich von Amoben unterscheidet.«

»Komplexitat.«

»Ist das von Vorteil?«

»Was glauben Sie?«

Oliviera zuckte die Achseln. »Was soll schon einer glauben, der sich seit Jahren mit nichts anderem als Mikrobiologie beschaftigt. Ich habe keinen Lehrstuhl wie Sie. Ich tausche mich nicht mit zornigen jungen Studenten aus, teile mich keiner breiten Offentlichkeit mit, leide unter mangelnder Distanz zu mir selber. Eine Laborratte in Menschengestalt. Wahrscheinlich trage ich Scheuklappen, aber ich sehe uberall nur Mikroorganismen. Wir leben im Zeitalter der Bakterien. Seit uber drei Milliarden Jahren behalten sie ihre Form unverandert bei. Menschen sind eine Modeerscheinung, aber wenn die Sonne explodiert, wird es immer noch irgendwo ein paar Mikroben geben. Sie sind das wahre Erfolgsmodell des Planeten, nicht wir. Ich wei? nicht, ob Menschen Vorteile gegenuber Bakterien haben, aber wenn wir jetzt noch den Beweis erbringen, dass Mikroben Intelligenz besitzen, stecken wir meines Erachtens ganz tief in der Schei?e.«

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