Der Schwarm - Schatzing Frank (читать книги TXT) 📗
Im nachsten Moment verlor der Beluga das Interesse. Vielleicht war er zu dem Schluss gelangt, sein Spiegelbild hinreichend erforscht zu haben, jedenfalls stieg er in einer eleganten Kurve auf und entfernte sich von der Glasscheibe.
»Das war’s«, sagte Anawak leise.
»Und was hei?t das jetzt?«, fragte eine Journalistin enttauscht, nachdem der Wal nicht wiederkam.
»Er wei?, wer er ist. Gehen wir nach oben.«
Sie stiegen aus dem Untergrund zuruck ins Sonnenlicht. Zu ihrer Linken lag der Pool, auf dessen Oberflache sie nun blickten. Dicht unter den krauseligen Wellen sahen sie die Korper der beiden Belugas dahingleiten. Anawak hatte bewusst darauf verzichtet, die Beobachter im Vorhinein uber den exakten Ablauf des Experiments aufzuklaren. Er lie? sich die Eindrucke der Teilnehmer schildern, um sicherzugehen, dass er nichts in das Verhalten des Wals hineininterpretierte, was ihn sein Wunschdenken hatte sehen lassen.
Seine Beobachtungen wurden ausnahmslos bestatigt.
»Gratuliere«, sagte er schlie?lich. »Sie haben soeben einem Experiment beigewohnt, das als Spiegel-Selbsterkennung in die Geschichte der Verhaltensforschung eingegangen ist. Ist jeder von Ihnen hinreichend damit vertraut?«
Die Studenten waren es, die Journalisten weniger.
»Macht nichts«, sagte Anawak. »Ich gebe Ihnen einen kurzen Abriss. Die Spiegel-Selbsterkennung datiert aus den Siebzigern. Jahrzehntelang beschrankten sich die Tests vornehmlich auf Primaten. Ich wei? nicht, ob Ihnen der Name Gordon Gallup etwas sagt …« Etwa die Halfte der Umstehenden nickte, die anderen schuttelten den Kopf. »Nun, Gallup ist Psychologe an der State University von New York. Eines Tages kam er auf eine ziemlich verruckte Idee: Er konfrontierte verschiedene Affenarten mit ihrem Spiegelbild. Die meisten ignorierten es, andere versuchten es anzugreifen, weil sie dachten, es handle sich um einen fremden Eindringling. Einige Schimpansen erkannten sich schlie?lich im Spiegel und benutzten ihn, um sich selber zu erforschen. Das war bemerkenswert, denn die uberwiegende Mehrheit im Tierreich ist nicht in der Lage, sich selber im Spiegel zu erkennen. Tiere existieren. Sie fuhlen, agieren und reagieren. Aber sie sind sich ihrer selbst nicht bewusst. Sie konnen sich nicht als eigenstandige Individuen wahrnehmen, die sich von ihren Artgenossen unterscheiden.«
Anawak erklarte weiter, wie Gallup die Stirn der Affen mit Farbe markiert und die Tiere dann vor den Spiegel gesetzt hatte. Die Schimpansen begriffen schnell, wen sie da im Spiegel sahen. Sie inspizierten die Markierung, betasteten die Stelle mit den Fingern und rochen daran. Gallup fuhrte die Tests mit anderen Affen, Papageien und Elefanten durch. Doch die einzigen Tiere, die den Spiegeltest durchweg bestanden, waren Schimpansen und Orang-Utans, was Gallup zu der Schlussfolgerung brachte, dass sie uber Selbstwahrnehmung und damit uber ein gewisses Selbstbewusstsein verfugten.
»Gallup ging aber noch weiter«, erklarte Anawak. »Er hatte lange Zeit die Auffassung vertreten, Tiere konnten die Psyche anderer Spezies nicht nachempfinden. Aber die Spiegeltests anderten seine Meinung. Er glaubt heute nicht nur, dass sich bestimmte Tiere ihrer selbst bewusst sind, sondern auch, dass sie dieser Umstand in die Lage versetzt, sich in andere hineinzudenken. Schimpansen und Orang-Utans messen anderen Individuen Absichten bei und entwickeln Mitgefuhl. Sie konnen von ihrem eigenen psychischen Befinden auf das anderer schlie?en. Das ist Gallups These, die mittlerweile eine gro?e Anhangerschaft gefunden hat.«
Er machte eine Pause. Ihm war klar, dass er die Journalisten spater wurde einbremsen mussen. Er wollte nicht in wenigen Tagen lesen, Belugas seien bessere Psychiater, Tummler hatten einen Club zur Rettung Schiffbruchiger und Schimpansen einen Schachverein gegrundet.
»Jedenfalls«, fuhr er fort, »ist es bezeichnend, dass bis in die Neunziger fast ausschlie?lich Landtiere fur Spiegeltests herangezogen wurden. Dabei war uber die Intelligenz von Walen und Delphinen zwar schon spekuliert worden, aber der Nachweis fand nicht unbedingt das Interesse der Nahrungsmittelindustrie. Affenfleisch und Affenfell sind nur fur einen sehr geringen Teil der Weltbevolkerung von Interesse. Die Jagd auf Wale und Delphine vereinbart sich hingegen schlecht mit Intelligenz und Selbstbewusstsein der Gejagten. Eine ganze Reihe von Leuten war nicht sonderlich begeistert, als wir vor wenigen Jahren begannen, Spiegeltests mit Tummlern durchzufuhren. Wir kleideten den Pool teils mit reflektierenden Glasscheiben aus, teils mit richtigen Spiegeln. Dann markierten wir die Tummler mit einem schwarzen Stift. Es war erstaunlich genug, dass unsere Probanden so lange die Wande absuchten, bis sie die Spiegel gefunden hatten. Offenbar war ihnen klar, dass sie die Markierung umso deutlicher sehen konnten, je besser die Flache ihr Spiegelbild reflektierte. Aber wir gingen noch weiter, indem wir die Tiere abwechselnd mit einem echten Farbstift kennzeichneten und mit einem, der nur Wasser enthielt. Es hatte ja sein konnen, dass die Tummler einzig auf den taktilen Reiz des Stifts reagierten, aber tatsachlich verharrten sie langer und prufender vor den Spiegeln, wenn die Markierung sichtbar war.«
»Erhielten die Tummler Belohnungen?«, fragte einer der Studenten.
»Nein, und wir haben sie auch nicht fur den Test trainiert. Wir haben wahrend der Experimente sogar unterschiedliche Korperpartien markiert, um Lern— oder Gewohnungseffekte auszuschlie?en. Seit wenigen Wochen fuhren wir nun den gleichen Testaufbau mit Belugas durch. Sechsmal haben wir den Wal markiert, zweimal mit dem Placebo-Stift. Sie haben gesehen, was geschah. Jedes Mal schwamm er zu dem Spiegel und suchte nach dem Symbol. Zweimal fand er keines vor und brach die Uberprufung vorzeitig ab. Meines Erachtens haben wir den Beweis erbracht, dass Belugas uber den gleichen Grad der Selbsterkenntnis verfugen wie Schimpansen. Wale und Menschen konnten einander in einigen Punkten ahnlicher sein, als wir bisher dachten.«
Eine Studentin hob die Hand. »Sie wollen sagen …« Sie zogerte. »Die Ergebnisse wollen sagen, dass Delphine und Belugas uber Geist und Bewusstsein verfugen, richtig?«
»So ist es.«
»Worin soll das begrundet liegen?«
Anawak war verblufft. »Haben Sie gerade nicht zugehort? Waren Sie vorhin nicht unten?«
»Doch, schon. Ich habe gesehen, dass ein Tier sein Spiegelbild registriert hat. Es wei? also, das bin ich. Schlie?en Sie daraus zwangslaufig auf Selbstbewusstsein?«
»Sie haben die Frage soeben selber beantwortet. Es wei?, das bin ich. Es hat ein Ich-Bewusstsein.«
»Das meine ich nicht.« Sie trat einen Schritt nach vorne. Anawak betrachtete sie unter gerunzelten Brauen. Sie hatte rotes Haar, eine kleine spitze Nase und leicht uberdimensionierte Schneidezahne. »Ihr Versuch unterstellt Aufmerksamkeitsbewusstsein und Korperidentitat. Wie es aussieht, mit Erfolg. Das muss noch lange nicht hei?en, dass diese Tiere ein Bewusstsein permanenter Identitat aufweisen und daraus irgendwelche Konsequenzen im Umgang mit anderen Lebewesen ableiten.«
»Das habe ich auch nicht gesagt.«
»Doch. Sie haben Gallups These vertreten, dass bestimmte Tiere von sich selbst auf andere schlie?en konnen.«
»Affen.«
»Was nebenbei gesagt umstritten ist. Jedenfalls haben Sie keinerlei Einschrankungen gemacht, als Sie spater uber Tummler und Belugas sprachen. Oder habe ich irgendwas nicht mitbekommen?«
»Man muss in diesem Fall nichts einschranken«, erwiderte Anawak verdrossen. »Dass die Tiere sich erkennen, ist bewiesen.«
»Einige Versuche lassen das vermuten, ja.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
Sie hob die Schultern und sah ihn aus runden Augen an.
»Na, ist das nicht offensichtlich? Sie konnen sehen, wie sich ein Beluga benimmt. Aber woher wollen Sie wissen, was er denkt? Ich kenne die Arbeit von Gallup. Er meint, bewiesen zu haben, dass sich ein Tier in ein anderes hineinversetzen kann. Das setzt voraus, dass Tiere ahnlich denken und empfinden wie wir. Was Sie uns heute gezeigt haben, ist der Versuch einer Vermenschlichung.«