Der Schwarm - Schatzing Frank (читать книги TXT) 📗
»Wozu uberhaupt eine Nachricht, wenn sie ohnehin schon unsere Tiefseekabel anfressen?«, fragte Rubin. »Daraus mussten die Biester doch alle Informationen saugen konnen.«
»Da bringen Sie was durcheinander«, lachelte Shankar. »Sam’s Arecibo-Botschaft ist fur Au?erirdische nur darum verstandlich, weil sie so aufgebaut wurde, dass ein fremder Geist sie dechiffrieren kann. Die Muhe machen wir uns bei unserem taglichen Datenaustausch nicht. Fur eine fremde Intelligenz kommt da nicht mehr raus als ein Heidendurcheinander.«
»Stimmt«, sagte Johanson. »Aber schauen wir mal weiter. Ich hatte diese Idee mit der Biotechnologie, und Sam greift sie auf. Warum? Weil sie offensichtlich ist. Keine Maschinen, keine Technik. Stattdessen pure Genetik, Organismen als Waffen, gezielte Mutationen. Die Yrr mussen der Natur in ganz anderer Weise verhaftet sein als wir. Ich konnte mir vorstellen, dass sie ihrer naturlichen Umwelt bei weitem nicht so entfremdet sind wie wir.«
»Also edle Wilde?«, fragte Peak.
»Edel wurde ich nicht sagen. Ich meine, es ist verwerflich, die Luft mit Maschinenabgasen zu verpesten. Es kann ebenso verwerflich sein, Tiere zu zuchten und genetisch zu verandern, wie es einem gerade in den Kram passt. Ich treffe nur Aussagen daruber, wie sie die Bedrohung ihres Lebensraums durch uns empfinden. Wir machen uns Gedanken uber die Abholzung des Regenwaldes. Die einen sind dagegen, die anderen tun es trotzdem. Sie sind vielleicht der Regenwald, im ubertragenen Sinne. Dafur spricht, wie sie mit Biologie umgehen — und an diesem Punkt kommt etwas hinzu, das mir auffallig erscheint.
Sieht man von den Walen ab, bedienen sie sich in fast allen Fallen massenhaft auftretender Lebensformen. Wurmer, Medusen, Gro?quallen, Muscheln, Krabben — alles Schwarmwesen. Sie opfern Millionen davon zur Erreichung ihrer Ziele. Der Einzelne gilt ihnen nichts. Wurden Menschen so denken? Wir zuchten Viren und Bakterienkulturen, aber vornehmlich setzen wir auf kunstliche Waffen in uberschaubarer Stuckzahl. Biologische Massenvernichtungsmittel sind nicht wirklich unser Ding. Die Yrr hingegen scheinen sehr damit vertraut zu sein. Warum? Weil sie vielleicht selber Schwarmwesen sind?«
»Sie glauben …«
»Ich denke, dass wir es mit einer Kollektivintelligenz zu tun haben.«
»Und wie fuhlt eine Kollektivintelligenz?«, fragte Peak.
»Wie fuhlt ein Fischer, wurde sich ein Fisch im Netz fragen, wenn er zu solcher Reflektion befahigt ware«, sagte Anawak. »Warum mussen er und Millionen andere ersticken? Ist das nicht Massenmord?«
»Nein«, sagte Vanderbilt. »Das sind Fischstabchen.«
Crowe hob die Hande.
»Ich stimme Dr. Johanson zu«, sagte sie. »Und die Schlussfolgerung ist, dass die Yrr einen Kollektivbeschluss gefasst haben, in dem die Frage nach moralischer Verantwortung und Mitgefuhl nicht aufkommt. Wir konnen ihnen nicht mit unschuldigen Kulleraugen kommen, was im Film noch bei dem widerlichsten kosmischen Schleimbeutel klappt. Wir konnen nur eines versuchen: Ihr Interesse dafur zu wecken, lieber mit uns zu kommunizieren als uns umzubringen. Ohne physikalische und mathematische Kenntnisse hatten die Yrr nicht vollbringen konnen, was sie bislang vollbracht haben, also fordern wir sie zu einem mathematischen Duell heraus — bis zu dem Punkt, da ihnen ihre Logik oder meinethalben ihre unbegreifliche Moral gebieten wird, ihr Handeln zu uberdenken.«
»Dass wir intelligent sind, muss ihnen klar sein«, beharrte Rubin. »Wenn sich jemand durch die Beherrschung von Physik und Mathematik auszeichnet, dann ja wohl wir.«
»Ja, aber sind wir eine bewusste Intelligenz?«
Rubin blinzelte verwirrt. »Wie meinen Sie das?«
»Ich meine, sind wir uns unserer Intelligenz bewusst?«
»Na sicher!«
»Oder sind wir ein lernfahiger Computer? Wir kennen die Antwort, aber kennen die anderen sie auch? Theoretisch konnen Sie ein komplettes Hirn durch elektronische Pendants ersetzen, dann erhalten Sie kunstliche Intelligenz. Die kann alles, was sie auch konnen. Sie konstruiert Ihnen ein Raumschiff und trickst die Lichtgeschwindigkeit aus. Aber ist dieses Computerhirn sich seiner Leistungen bewusst? 1997 hat Deep Blue, ein IBM-Computer, den amtierenden Weltmeister Garri Kasparow im Schach geschlagen. Verfugt Deep Blue deswegen uber Bewusstsein? Hat der Computer gesiegt, ohne zu wissen, warum? Muss man zwangslaufig annehmen, wir seien Lebewesen von bewusster Intelligenz, nur weil wir Stadte bauen und Tiefseekabel verlegen? Bei SETI haben wir jedenfalls nie ausgeschlossen, auf eine Maschinenzivilisation zu sto?en, die ihre Konstrukteure uberdauert und sich seit Jahrmillionen selbststandig weiterentwickelt hat.«
»Und die da unten? Ich meine, wenn es stimmt, was Sie sagen — vielleicht sind die Yrr ja auch nur Ameisen mit Flossen. Ohne Werte, ohne … ohne …«
»Richtig. Das ist der Grund, warum wir mehrstufig vorgehen«, sagte Crowe lachelnd. »Erst mal will ich wissen, ob da jemand ist. Zweitens, ob man in einen Dialog mit ihm treten kann. Drittens, ob sich die Yrr des Dialogs und ihrer selbst uberhaupt bewusst sind. Erst dann, wenn ich zu dem Schluss gelange, dass sie neben all ihrem Wissen und ihren Fahigkeiten auch noch Vorstellungsvermogen und Verstandnis mitbringen, bin ich bereit, sie als intelligente Wesen zu betrachten. Erst dann hat es Sinn, uber Werte nachzudenken, und seihst dann sollte keiner hier im Raum erwarten, dass sie deckungsgleich mit unseren sind.«
Eine Weile herrschte Schweigen.
»Ich will mich nicht in wissenschaftliche Diskussionen einmischen«, sagte Li schlie?lich. »Pure Intelligenz ist kalt. Intelligenz gekoppelt mit Bewusstsein ist etwas anderes. Meines Erachtens mussen daraus Werte entstehen. Wenn die Yrr eine bewusste Intelligenz darstellen, mussen sie zumindest einen Wert anerkennen, namlich den des Lebens. Und das tun sie, denn sie versuchen, sich zu schutzen. Also haben sie Werte. Die Frage ist also, ob es irgendwo vielleicht doch eine Schnittmenge mit menschlichen Werten gibt, und sei sie noch so klein.«
Crowe nickte.
»Ja«, sagte sie. »Und sei sie noch so klein.«
Am spaten Nachmittag schickten sie den ersten, gebundelten Schallimpuls in die Tiefe. Sie wahlten einen Frequenzbereich, den Shankar festgelegt hatte und der im Spektrum des unidentifizierten Gerauschs lag, das die SOSUS-Leute Scratch getauft hatten.
Das Modem modulierte die Frequenz. Das Signal wurde hier und da zuruckgeworfen, es kam zu Interferenzen. Crowe und Shankar sa?en im CIC und modulierten wiederum die Modulationen, bis sie zufrieden waren. Nach einer Stunde war Crowe sicher, dass die Botschaft fur jemanden, der Schallwellen verarbeiten konnte, eindeutig zu verstehen war. Ob die Yrr einen Sinn darin entdecken wurden, stand auf einem anderen Blatt.
Und ob sie es fur notwendig erachten wurden, darauf zu antworten.
Crowe sa? im dammrigen CIC auf der Kante ihres Sessels und empfand ein seltsames Hochgefuhl bei dem Gedanken, wie nah sie plotzlich dem Kontakt war, den sie jahrzehntelang herbeigesehnt hatte. Zugleich empfand sie Furcht. Sie spurte eine erdruckende Verantwortung auf sich und den Mitgliedern der Expedition lasten. Das hier war kein Abenteuer wie Arecibo und SETI. Es war der Versuch, eine Katastrophe zu stoppen und die Menschheit zu retten.
Der akademische Traum war zum Alptraum geworden.
Anawak kletterte aus dem Schiffsinnern hoch in die Insel, durchquerte die schmalen Gange und betrat das Flugdeck.
Das Dach hatte sich im Verlauf der Reise zu einer Art Promenade entwickelt. Wer immer Zeit fand, sich die Beine zu vertreten, schlenderte dort herum, hing seinen Gedanken nach oder besprach sich mit anderen. So paradox es scheinen mochte, hatte sich ausgerechnet die Start— und Landeflache des gro?ten Helikoptertragers der Welt zu einem Ort der Ruhe und des Ideenaustauschs entwickelt. Die sechs Super-Stallions und zwei Super-Cobra -Kampfhubschrauber standen verloren in der asphaltierten Weite.