Der Schwarm - Schatzing Frank (читать книги TXT) 📗
An diesem Morgen machte er die unerwartete Erfahrung des Selbstzweifels. Wie sollte er seine Theorie erzahlen, ohne dass gleich alle vor Lachen von den Stuhlen fielen? Li hatte eingeraumt, er konne Recht haben. Das war schon eine ganze Menge. Mit etwas vorsichtigem Optimismus lie? sich sogar sagen, dass sie seinen Gedankengangen zu folgen bereit war. Aber Reste von Unsicherheit, ob er es richtig machen oder verpatzen wurde, garten in ihm und fuhrten dazu, dass er den gro?ten Teil der Nacht damit verbracht hatte, seinen Vortrag wieder und wieder umzuschreiben. Johanson gab sich keinen Illusionen hin. Er hatte nur diesen einen Schuss. Entweder nahm er die anderen in einem Uberraschungsangriff fur sich ein, oder sie erklarten ihn fur durchgeknallt.
Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Es herrschte Totenstille.
Er warf einen Blick auf das oberste Blatt seines Manuskripts. Die Hinleitung war ausfuhrlich. Jetzt, nach drei Stunden Schlaf, erschien sie ihm plotzlich unverstandlich und kompliziert. Sollte er das wirklich so vortragen? In der Nacht war er zufrieden damit gewesen, als ihm die Augen brannten und er vor lauter Mudigkeit kaum noch klar denken konnte. Aber genau so las es sich jetzt. Durch tausend Untiefen qualte sich die Argumentation. Ein rhetorischer Schlingerkurs.
Johanson zogerte.
Dann legte er das Manuskript beiseite.
Augenblicklich fuhlte er eine ungeheure Erleichterung, als habe der dunne Stapel Papier Tonnen gewogen. Seine Selbstsicherheit kehrte zuruck wie eine kampfbereite Kavallerie, mit wehender Fahne und Fanfarensto?en. Er trat einen Schritt vor, sah in die Runde, versicherte sich der Aufmerksamkeit eines jeden Einzelnen und sagte:
»Es ist ganz einfach. Die Konsequenzen werden uns schreckliches Kopfzerbrechen bereiten, aber im Grundsatz ist es wirklich simpel und nahe liegend. Wir erleben keine Naturkatastrophe. Ebenso wenig haben wir es mit terroristischen Vereinigungen oder Schurkenstaaten zu tun. Auch die Evolution spielt nicht verruckt. Nichts von alledem trifft zu.« Er machte eine Pause. »Etwas vollig anderes geschieht. Wir werden in diesen Tagen Zeuge des viel beschriebenen Krieges zwischen den Planeten. Zwei Planeten, die wir nur als solche nicht erkennen, weil sie zu einem verschmolzen sind. Wahrend wir nach oben geschaut haben in Erwartung fremder Intelligenzen aus dem All, zeigen sie sich nun als Teil unserer Welt, den wir uns nie wirklich zu verstehen bemuht haben. Zwei grundverschiedene Systeme intelligenten Lebens koexisitieren auf diesem Planeten, die einander bis heute in Ruhe gelassen haben. Aber wahrend das eine System um die Entwicklung des anderen wusste, hat das andere bis heute keinerlei Vorstellung von der Komplexitat der Welt unter Wasser, oder — wenn Sie so wollen — von dem fremden Universum, mit dem wir diesen Globus teilen. Der Weltraum liegt in den Ozeanen. Die Au?erirdischen kommen nicht aus weit entfernten Galaxien, sondern haben sich am Grund der Tiefsee entwickelt. Das Leben im Wasser ist weit alter als das zu Lande, und ich schatze, diese Wesen werden weit alter sein als wir. Ich habe keine Vorstellung davon, wie sie aussehen oder wie sie leben, wie sie denken und kommunizieren. Aber wir werden uns an den Gedanken gewohnen mussen, dass es eine zweite gottliche Rasse gibt, deren Lebensbereich wir seit Jahrzehnten systematisch zerstoren. — Und, ladies and gentlemen, die da unten scheinen mit einiger Berechtigung stinksauer auf uns zu sein.«
Niemand sagte etwas.
Vanderbilt starrte ihn an. Seine Hangebacken zitterten. Sein ganzer gewaltiger Korper begann zu beben, als schaukele sich darin ein Lachen auf, das uber Johanson hereinbrechen wurde wie die Salve eines Exekutionskommandos. Die fleischigen Lippen zuckten. Vanderbilt offnete den Mund.
»Ihr Gedanke leuchtet mir ein«, sagte Li.
Es war, als habe man dem Stellvertretenden Direktor der CIA ein Messer zwischen die Rippen gesto?en. Sein Mund klappte wieder zu. Er zuckte heftig zusammen und schaute Li entgeistert an.
»Das ist nicht Ihr Ernst«, keuchte er.
»Doch«, erwiderte Li ruhig. »Ich habe nicht gesagt, dass Dr. Johanson Recht hat, aber es erscheint mir sinnvoll, ihm zuzuhoren. Ich denke, er wird seine Annahme begrunden konnen.«
»Danke, General«, sagte Johanson mit einer leichten Verbeugung. »Das kann ich tatsachlich.«
»Dann schlage ich vor, dass Sie fortfahren. Versuchen Sie Ihre Ausfuhrungen knapp zu halten, damit wir baldmoglichst in die Diskussion einsteigen konnen.«
Vanderbilt schien unter Schock zu stehen. Johanson lie? seinen Blick die Reihen entlang wandern. Er versuchte es beilaufig geschehen zu lassen, um nicht den Eindruck zu erwecken, er sei auf Reaktionen aus. Kaum jemand trug offene Ablehnung zur Schau. Die meisten Gesichter waren in Verwunderung erstarrt, manche fasziniert, andere unglaubig, einige ausdruckslos. Jetzt musste er den zweiten Schritt tun. Er musste sie dazu bringen, seine Idee aufzugreifen und selbstandig weiterzuentwickeln.
»Unser Hauptproblem in den vergangenen Tagen und Wochen«, sagte er, »hat darin bestanden, die unterschiedlichen Vorfalle in Bezug zueinander zu setzen. Es schien keine Verbindung zu geben, bis wir auf eine gallertartige Substanz stie?en, die in unterschiedlichen Quantitaten auftritt und an der frischen Luft rasch zerfallt. Leider hat diese Entdeckung unsere Verwirrung nur gesteigert, weil wir das Zeug in Krebsen und Muscheln ebenso fanden wie in den Kopfen von Walen, also in Lebewesen, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Als mogliche Erklarung bot sich eine Art Seuche an. Ein Schimmelpilz, eine Substanz gewordene Tollwut, irgendeine Art von Befall wie BSE oder Schweinepest. Aber das erklart wiederum nicht die Schiffsuntergange oder warum die Krebse Killeralgen in sich tragen. Und die Wurmer an den Kontinentalhangen weisen nichts Gallertiges auf. Dafur transportieren sie Methan reduzierende Bakterien und sind verantwortlich fur die Freisetzung von Treibhausgas in gro?en Mengen, was letztlich zur Abrutschung des Schelfrandes und zum Tsunami fuhrte. In weiten Teilen der Welt treten unterdessen Organismen auf, die offenbar mutiert sind, und Fischschwarme verhalten sich wider ihre Natur. — Das alles ergibt kein Bild. Jack Vanderbilt hat darum absolut Recht, wenn er einen planenden Geist heraufbeschwort, der fur all das verantwortlich ist. Aber er verkennt, dass kein Wissenschaftler annahernd genug uber marine Okosysteme wei?, um sie derart manipulieren zu konnen. Es wird gerne behauptet, wir wussten uber den Weltraum mehr als uber die Tiefsee. Das stimmt. Man sollte erganzend sagen, warum das so ist: weil wir uns im Weltraum besser bewegen und besser sehen konnen als in den Meeren. Das Hubble-Teleskop schaut muhelos in fremde Galaxien. Hingegen lassen uns selbst starkste Scheinwerfer die Welt unter Wasser nur im Umkreis weniger Dutzend Meter erkennen. Ein Mensch in einem Raumanzug kann sich im Weltraum nahezu uberall frei bewegen, aber ein Taucher wird ab einer gewissen Tiefe zerquetscht, selbst in einem Hightech-Anzug. Unterseeboote, AUVs und ROVs, sie alle funktionieren nur unter ganz bestimmten Bedingungen. Definitiv besitzen wir weder die technische Ausstattung noch die Physis, um Milliarden Wurmer auf Hydraten abzusetzen, und schon gar nicht verfugen wir uber das erforderliche Wissen, um sie fur eine Welt zu zuchten, die wir kaum kennen. — Tiefseekabel sind zerstort worden, und nicht nur durch die Rutschung. Aus den Abyssalen steigen Schwarme von Muscheln, Medusen und Quallen empor. — Ja, es ist richtig, wir erleichtern uns die Erklarung dieser Phanomene, indem wir einen planenden Geist voraussetzen, aber dann mussen wir den Gedanken konsequent zu Ende denken: dass namlich alles, was geschieht, nur geschehen kann, weil jemand sich da unten ebenso gut auskennt, wie wir uns an der Oberflache auskennen. Also jemand, der dort lebt und in seinem Universum die herrschende Rolle einnimmt.«
»Habe ich Sie richtig verstanden?«, rief Rubin aufgeregt. »Sie wollen sagen, wir teilen uns diesen Planeten mit einer zweiten intelligenten Rasse?«