Der Schwarm - Schatzing Frank (читать книги TXT) 📗
»Wenn du dich auf den Rucken legst«, sagte er, »gehort das Universum dir. Mit allem, was drin ist. Versuch’s.«
Sie sah ihn an. Im Dunkeln leuchteten ihre Augen. »Hast du schon mal Sternschnuppen hier gesehen?«
»Ja. Mehrfach.«
»Und? Hast du dir was gewunscht?«
»Dafur mangelt es mir an romantischer Substanz.« Er lie? sich neben ihr auf den Planken nieder. »Ich habe es einfach genossen.«
Lund kicherte. »Du glaubst an gar nichts, was?«
»Und du?«
»Ich bin die Letzte, die an so was glaubt.«
»Ich wei?. Dir macht man keine Freude mit Blumen oder Sternschnuppen. Kare wird seine liebe Not haben. Das Romantischste, was man dir schenken kann, ist wahrscheinlich eine Stabilitatsanalyse fur meerestechnische Konstruktionen.«
Lund sah ihn weiter an. Dann legte sie den Kopf in den Nacken und lie? sich langsam nach hinten sinken. Ihr Pullover rutschte hoch und gab ihren Bauchnabel frei. »Glaubst du das wirklich?«
Johanson stutzte sich auf den Ellenbogen und betrachtete sie. »Nein. Nicht wirklich.«
»Du glaubst, ich bin unromantisch.«
»Ich glaube, du hast dir noch keine Gedanken daruber gemacht, wie Romantik funktioniert.«
Wieder hefteten sich ihre Blicke aneinander.
Lange.
Zu lange.
Er fand seine Finger in ihrem Haar wieder, fuhr langsam durch die Strahnen. Sie sah zu ihm hoch.
»Vielleicht zeigst du es mir«, flusterte sie.
Johanson beugte sich hinab, bis zwischen ihren Lippen nur noch eine dunne Schicht erhitzter Luft vibrierte. Sie schlang einen Arm um seinen Nacken. Ihre Augen waren geschlossen.
Kussen. Jetzt.
Tausend Gerausche und Gedanken flatterten durch Johansons Hirn, verdichteten sich zu einem Wirbel und zerrten an seiner Konzentration. Immer noch verharrten sie beide in angespannter Stellung, als musse erst jemand ein Zeichen geben, ein Signal, eine Genehmigung, hier bitte, in doppelter Ausfertigung, eine fur Sie, eine fur Sie. Sie durfen die Braut jetzt kussen, Sie durfen jetzt leidenschaftlich werden, wirklich leidenschaftlich. Das sah schon nicht schlecht aus, aber jetzt glauben Sie bitte dran!
Seien Sie leidenschaftlich, Mann!
Was ist los?, dachte Johanson. Was stimmt hier nicht?
Er spurte Lunds Korperwarme, nahm ihren Duft in sich auf, und es war ein kostlicher, wunderbarer, einladender Duft.
Aber es war, als sei er im falschen Haus. Nicht an ihn erging diese Einladung.
»Es funktioniert nicht«, sagte Lund im selben Moment.
Einen Atemzug lang, auf der Kippe zwischen Kapitulation und trotzigem Beharren, fuhlte sich Johanson, als sei er in eiskaltes Wasser gefallen. Dann verging der kurze Schmerz. Etwas erlosch. Der Rest von Glut verfluchtigte sich in der klaren Luft uber dem See und machte ungeheurer Erleichterung Platz.
»Du hast Recht«, sagte er.
Sie losten sich voneinander, langsam, widerstrebend, als hatten ihre Korper noch nicht begriffen, was die Kopfe langst ausgehandelt hatten. Johanson sah die Frage in ihren Augen, die sie wahrscheinlich auch in seinen las: Wie viel haben wir vermasselt? Kaputtgemacht? Fur immer versaut?
»Alles okay?«, fragte er.
Lund antwortete nicht. Er setzte sich vor sie hin, mit dem Rucken zur Bootswand. Dann fiel ihm auf, dass er die Flasche noch umklammert hielt, und er reichte sie ihr.
»Offenbar«, sagte er, »ist unsere Freundschaft zu stark fur die Liebe.«
Er wusste, dass es platt und pathetisch klang, aber es verfehlte seine Wirkung nicht. Sie begann zu kichern, nervos zuerst, dann offensichtlich erleichtert. Griff nach der Flasche, nahm einen langen Schluck und lachte laut auf. Fuhr sich durchs Gesicht, als wollte sie dieses laute, unpassende Lachen wegwischen, aber es drang weiterhin dumpf zwischen ihren Fingern hindurch, und Johanson lachte schlie?lich mit.
»Puh«, machte sie.
Dann schwiegen sie eine ganze Weile.
»Bist du sauer?«, fragte sie schlie?lich leise.
»Nein. Du?«
»Ich … nein, ich bin nicht sauer. Uberhaupt nicht. Es ist nur …« Sie stockte. »Es ist alles so wirr. Auf der Thorvaldson, wei?t du, der Abend in deiner Kabine. Eine Minute langer, und … ich meine, es hatte passieren konnen, aber heute …«
Er nahm ihr die Flasche aus der Hand und trank.
»Nein«, sagte er. »Seien wir ehrlich, es ware ebenso ausgegangen. Ganz genauso wie gerade.«
»Woran liegt’s?«
»Du liebst ihn.«
Lund schlang die Arme um ihre Knie. »Kare?«
»Wen sonst?«
Sie starrte vor sich hin, eine ganze Zeit lang, und Johanson formte die Lippen wieder um den Flaschenhals, weil es nicht seine Aufgabe war, Tina Lund ihre Gefuhle zu erklaren.
»Ich dachte, ich kann dem entkommen, Sigur.«
Pause. Wenn sie eine Antwort erwartet, dachte er, wird sie lange warten mussen. Sie wird es von selber kapieren mussen.
»Wir waren immer mal wieder so weit, du und ich«, sagte sie nach einer Weile. »Keiner von uns wollte sich binden, eigentlich ideale Voraussetzungen. — Aber wir haben die Option nie eingelost. — Ich hatte zu keiner Zeit das Gefuhl, es muss jetzt unbedingt sein, ich … ich war nie in dich verliebt. Ich wollte nie verliebt sein. Aber die Vorstellung, dass es irgendwann passiert, hatte ihren Reiz. Jeder lebt weiter sein Leben, keine Verpflichtung, keine Bindung. Ich war sogar uberzeugt, dass es bald passieren wurde, ich fand, dass es fallig war! — Und plotzlich kommt Kare daher, und ich denke: Mein Gott, das ist verbindlich! Alles oder nichts. Liebe ist verbindlich, und das hier ist …«
»Das ist Liebe.«
»Ich dachte eher, es ist was anderes. Wie Grippe. Ich konnte mich nicht mehr vernunftig auf meinen Job konzentrieren, ich war in Gedanken standig woanders, ich hatte einfach das Gefuhl, mir wird der Boden unter den Fu?en weggezogen, und das passt nicht in mein Leben, das bin nicht ich.«
»Und da hast du gedacht, bevor du die Kontrolle verlierst, lost du endlich die Option ein.«
»Du bist ja doch sauer!«
»Ich bin nicht sauer. Ich verstehe dich. Ich war auch nie in dich verliebt.« Er uberlegte. »Begehrt habe ich dich. Ubrigens erst richtig, seit du mit Kare zusammen bist. Aber ich bin ein alter Jager, ich glaube, es war einfach argerlich, dass mir da einer die Beute streitig machte, es hat mich gefuchst und in meiner Eitelkeit gekrankt …« Er lachte leise. »Kennst du diesen wunderbaren Film mit Cher und Nicolas Cage? Mondsuchtig. Jemand fragt, warum wollen Manner mit Frauen schlafen? Und die Antwort ist: Weil sie Angst vor dem Tod haben. Mhm. Wie komme ich jetzt darauf?«
»Weil alles mit Angst zu tun hat. Angst vor dem Alleinsein, Angst davor, nicht gefragt zu sein — aber schlimmer ist die Angst, wahlen zu konnen und dich falsch zu entscheiden. So, dass du aus der Nummer nicht mehr rauskommst. Du und ich, wir wurden nie etwas anderes als ein Verhaltnis haben, und mit Kare … mit Kare konnte ich nie etwas anderes haben als eine Beziehung. Es brauchte nicht viel, dass mir das klar wurde. Du willst jemanden, den du eigentlich gar nicht kennst, du willst ihn um jeden Preis. Du bekommst ihn aber nur, wenn du sein Leben mitkaufst. Und plotzlich wirst du misstrauisch.«
»Es konnte sich als Fehler herausstellen.«
Sie nickte.
»Warst du eigentlich je mit einem zusammen?«, fragte er. »So richtig, meine ich.«
»Einmal«, erwiderte sie. »Ist schon was her.«
»Dein Erster?«
»Mhm.«
»Was ist passiert?«
»Es ist unoriginell, was passierte. Wirklich. Ich wurde gerne mit was Wuchtigem aufwarten, aber Tatsache ist, dass er irgendwann Schluss machte und ich das heulende Elend bekam.«
»Und danach?«
Sie stutzte das Kinn auf. Wie sie dort im Mondlicht sa?, eine kleine, steile Falte zwischen den Brauen, sah sie wunderbar aus. Dennoch empfand Johanson nicht die Spur des Bedauerns. Weder, dass sie es versucht hatten, noch, wie es ausgegangen war.
»Danach war ich jedes Mal diejenige, die es beendet hat.«