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Der Schwarm - Schatzing Frank (читать книги TXT) 📗

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Der Buckel hebt sich ein weiteres Mal aus dem gekrauselten Grau. Das Tier ist riesig. Es bleibt an der Wasseroberflache, dicht neben dem Boot. So nah zieht es vorbei, dass Weaver nur die Hand ausstrecken musste, um den schartigen, seepockenbewachsenen Kopf zu beruhren. Der Wal dreht sich auf die Seite, und sein linkes Auge mustert die kleine Frau in der Maschine einige Sekunden.

Weaver erwidert den Blick.

Knallend entladt sich der Blas des Wals. Dann taucht er langsam ab, ohne eine einzige Welle zu verursachen, verschwindet im grauen Wasser und ist nur noch eine Erinnerung.

Weaver klammert sich an den Rand der Rohre.

Er hat nicht angegriffen.

Der Wal hat ihr nichts getan.

Sie kann es kaum glauben. Ihr ganzer Schadel drohnt. Es schwirrt in ihren Ohren. Wahrend sie noch ins Wasser starrt, hort sie das Schwirren und Drohnen naher kommen, und es ist nicht in ihrem Schadel. Es dringt aus der Luft zu ihr herab, wird zu einem Wummern, ganz nah jetzt, ohrenbetaubend, und Weaver wendet den Kopf.

Der Helikopter steht tief uber dem Wasser.

Menschen drangen sich in der geoffneten Seitentur. Soldaten und jemand in Zivil, der ihr zuwinkt, mit beiden Armen. Jemand, dessen Mund weit offen steht, weil er den aussichtslosen Versuch unternimmt, das Knattern der Rotoren zu ubertonen.

Am Ende wird er es besiegen, doch im Augenblick siegt die Maschine. Weaver weint und lacht zugleich. Es ist Leon Anawak.

EPILOG

AUS DEN CHRONIKEN VON SAMANTHA CROWE

15. August

Nichts ist mehr, wie es war.

Heute vor einem Jahr sank die Independence. Ich habe beschlossen, Tagebuch zu fuhren. Ein Jahr danach. Offenbar brauchen Menschen immer irgendein symbolisches Datum, um Dinge zu beginnen oder zu beenden. Nicht, dass es an Aufzeichnungen uber die Ereignisse der letzten Monate mangeln wurde. Aber es sind nicht meine Gedanken, die da niedergeschrieben werden, und ich mochte mich eines Tages gerne der Gultigkeit meiner Erinnerungen versichern.

In den Morgenstunden habe ich Leon angerufen. Er war damals die Alternative Verbrennen, Ertrinken oder Erfrieren. Genau genommen verdanke ich ihm gleich zweimal mein Leben. Nachdem das Schiff gesunken war, hatte ich immer noch sterben konnen, bis auf die Knochen nass vom Eiswasser, mit einem gebrochenen Fu?gelenk und ohne jede Hoffnung, dass uns jemand auffischt. Das Zodiac hatte eine Uberlebensausrustung an Bord, aber ich bezweifle, ob ich alleine damit klargekommen ware. Unmittelbar nach dem Untergang der Independence muss ich zu allem Uberfluss in Ohnmacht gefallen sein. Bis heute weigert sich mein Hirn, diese letzte Sequenz abzuspielen. Ich erinnere mich, dass wir die Rampe hinuntersturzten, mein allerletzter Eindruck ist Wasser. Aufgewacht bin ich in einem Krankenhaus. Mit Unterkuhlungen, einer Lungenentzundung, einer Gehirnerschutterung und dem dringenden Verlangen nach Nikotin.

Leon geht es gut. Karen und er sind derzeit in London. Wir haben uber die Toten gesprochen. Uber Sigur Johanson, der sein Haus im norwegischen Hinterland nicht mehr sehen konnte, uber Sue Oliviera, Murray Shankar, Alicia Delaware und Greywolf. Leon vermisst seine Freunde, ganz besonders an einem Tag wie diesem. So sind wir Menschen. Auch um der Toten zu gedenken, brauchen wir Ankerpunkte der Trauer, damit wir den Schmerz hinterher in eine Kiste stecken und ein weiteres Jahr Zwischenlagern konnen, und wenn wir ihn das nachste Mal auspacken, stellen wir fest: Wir hatten ihn gro?er in Erinnerung. Dem Tod die Toten. Sehr schnell gingen wir zu den Lebenden uber. Kurzlich habe ich Gerhard Bohrmann kennen gelernt. Ein angenehmer Zeitgenosse, ausgeglichen und entspannt. Ich wei? nicht, ob ich an seiner Stelle je wieder einen Fu? ins Wasser setzen wurde, aber er vertritt die Auffassung, schlimmer als vor La Palma konne es nicht kommen. Also taucht er weiter, um sich ein Bild vom Zustand der Kontinentalabhange zu verschaffen, und mittlerweile kann man ja auch wieder tauchen. Tatsachlich horten die Angriffe unmittelbar nach dem Untergang der Independence auf. Kurz zuvor hatten die SOSUS-Messstationen Scratch-Signals registriert, die quer durch den Ozean zu horen waren. Als Stunden spater der Rettungstrupp am Vulkankegel eintraf, um Bohrmann aus seiner Felsspalte zu befreien, fand man keine Haie mehr vor. Die Wale kehrten uber Nacht zu ihren naturlichen Verhaltensweisen zuruck. Die Wurmer verschwanden ebenso wie die Quallenheere und die giftigen Tiere, keine Krabben uberrannten mehr die Kusten, und allmahlich beginnt auch die gro?e Pumpe wieder zu arbeiten, ohne die uns eine neue Eiszeit ins Haus stunde. Sogar die Hydrate, sagt Bohrmann, gewinnen ihre Festigkeit zuruck. Bis heute wei? Karen nicht genau, was sie eigentlich gesehen hat am Grund des Gronlandischen Beckens, aber ihr Plan muss aufgegangen sein. Die Scratch- Signale decken sich zeitlich mit dem Moment, als sie Kontakt zur Konigin hatte — das wissen wir vom Bordsystem des Deepflight. Der Computer hat festgehalten, wann Karen die Abdeckung offnete, um Rubins Leichnam in die Tiefsee zu entlassen, und wenig spater stoppte der Terror.

Oder sollten wir besser sagen, er wurde ausgesetzt?

Nutzen wir unsere Chance?

Ich wei? es nicht. Langsam erholt sich Europa von den Folgen des Tsunamis. Die Seuchen im Osten Amerikas wuten immer noch, wenngleich sich ihre Wirkung abschwacht und eine Reihe neuer Immunstoffe beginnt, Wirkung zu zeigen. Das sind die guten Nachrichten. Demgegenuber befindet sich die Welt im Taumel der Irritation. Wie sollen wir an uns selbst gesunden angesichts des Scherbenhaufens, der von unserem Selbstverstandnis geblieben ist? Die etablierten Religionen bleiben die Antwort schuldig, exemplarisch das Christentum: Adam und Eva, die Archetypen unseres Geschlechts, raumten schon vor langer Zeit das Feld fur Bausteine der Biochemie. Die Kirche akzeptierte notgedrungen, dass Gott mit Proteinen und Aminosauren begonnen hat. Damit lie? sich leben. Entscheidend war, dass Er wollte, was Er tat! Wie genau der Mensch entstand, war nicht von Relevanz, nur dass er entstand, so wie es Gott gefiel. Gott wurfelt nicht, hat Einstein gesagt. Er setzt Plane in die Tat um, deren Gelingen au?er Frage steht. Unfehlbarkeit gilt immer a priori!

Auch mit der Vorstellung anderer Intelligenzen auf anderen Planeten vermochte das Christentum Schritt zu halten. Warum sollte Gott seine Schopfung nicht wiederholen, sooft es Ihm gefiel? Selbst, dass solche Wesen anders aussehen, kann von Gott gewollt sein. Im Rahmen hiesiger Bedingungen, die Er kraft seines Willens festgelegt hat, ist das Modell Mensch den Bedingungen optimal angepasst. Auf anderen Planeten hat Gott andere Rahmenbedingungen geschaffen und ergo andere Lebensformen. So oder so schuf Er alles Leben nach Seinem Bilde, weil der Begriff des Ebenbildes metaphorisch zu verstehen ist: Die Schopfung entspricht nicht Gottes Spiegelbild, sondern dem Bild, das Er im Sinn hatte, als Er daranging, sie zu verwirklichen.

Das Problem war anderer Natur: Wenn es zutraf, dass der Kosmos bevolkert war von fremden Intelligenzen, allesamt von Gott geschaffen — musste sich dann nicht auch die Geschichte von Gottes Sohn auf jedem Planeten ahnlich abgespielt haben? Mussten die Bewohner nicht uberall sundigen, um durch das gottliche Opfer erlost zu werden?

Man kann dem entgegenhalten, dass eine von Gott geschaffene Rasse nicht zwangslaufig sundig werden muss. Die Entwicklung konnte sich anders vollzogen haben. Auf einem fernen Planeten folgten die Bewohner Gottes Gesetz, sodass ein Erloser nicht vonnoten war. Nur barg die Sache einen gewaltigen Haken: Wenn diese andere Rasse immerzu nach Gottes Wort gelebt hatte — war sie dann im Sinne Gottes die bessere Rasse? Sie hatte sich Seiner wurdiger erwiesen als der Mensch, also musste Gott ihr eigentlich den Vorzug geben. Damit aber geriet die Menschheit zur Schopfung zweiter Klasse, ohnehin vorbestraft, da schon einmal wegen fortgesetzter moralischer Unzulanglichkeit hinweggespult. Man kann es sogar noch drastischer formulieren: Gott hat mit der Menschheit nicht gerade Sein Meisterstuck abgeliefert. Er hat gepatzt. Er hat nicht verhindern konnen, dass die Menschen sundig wurden, also sah Er sich gezwungen, Seinen Sohn zu opfern, um die Schuld zu tilgen. Eine Art Kredit in Blut. Welcher Vater tut so etwas leichten Herzens? Gott selber musste zu dem Schluss gelangt sein, dass Ihm die Menschheit misslungen war.

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